„Gut leben als Alleinerziehende. Ist das gerade überhaupt möglich? Die Corona-Epidemie und die drastischen politischen Entscheidungen zu ihrer Eindämmung belasten Allein- und Getrennterziehende in besonderem Maße. Fehlende oder eingeschränkte Kinderbetreuung, zum Teil massive Verdienstausfälle bei einem ohnehin oft geringem finanziellen Polster, die Verantwortung für die eigenen Kinder und gegebenenfalls Konflikte mit dem anderen Elternteil – die genannten Punkte bringen viele an ihre Grenzen. Sie setzen zum Teil aber auch große Energie frei. Weiterlesen „„Gut leben als Alleinerziehende“ – auch in Zeiten von Corona? (Buchrezension)“
Schlagwort: Rezension
Wovon wir träumten
120.000.
Die Einwohner einer Stadt wie Göttingen oder Wolfsburg: von einem Tag auf den anderen in riesige Gefangenenlager gepfercht, ihrer Wohnungen, ihres Einkommens, ihrer Berufe und Besitztümer beraubt, ohne Anklage und juristische Begründung. Männer, Frauen und Kinder. Dies alles ereignet sich in einer Demokratie, aufgrund eines einzigen Kriteriums: der Herkunft dieser Menschen.
Sie verschwinden wie Geister
Unmöglich? Und doch so geschehen 1942, in den Vereinigten Staaten von Amerika. 120.000 japanische Gastarbeiter und ihre Familien wurden zunächst als „unwanted aliens“, unerwünschte Fremde, diskriminiert und isoliert und schließlich jahrelang in riesigen Gefangenenlagern festgehalten und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Das alles ohne nennenswerten Protest ihrer Nachbarn, Arbeitgeber, Freunde und Bekannten. In den Geschichtsbüchern bleibt das Geschehen für Jahre eine Randnotiz, erst Ende der 1980er Jahre wird es thematisiert, werden Gedenkstätten an den Orten der Lager errichtet.
Julie Otsuka schreibt in ihrem Roman „Wovon wir träumten“ über dieses eigentlich unglaubliche Geschehen. Tatsächlich wirkt die Umsiedlung der Japaner in die Gefangenenlager in den letzten zwei Kapiteln ihres Werkes zugleich real und wie ein böser Traum:
„Einige von uns gingen weinend. Und einige von uns gingen singend. Eine von uns hielt sich hysterisch lachend die Hand vor den Mund. Einige von uns gingen betrunken. Andere von uns gingen schweigend, mit hängenden Köpfen, betreten und verschämt.“
Da mir dieses Kapitel US-amerikanischer Geschichte vor dem Lesen des Buches tatsächlich unbekannt war, musste ich mich erst informieren, ob es wirklich geschehen sein konnte, dass zehntausende Menschen von einem Tag auf den anderen aus amerikanischen Metropolen verschwanden wie Geister:
„Die Japaner sind aus unserer Stadt verschwunden. Ihre Häuser sind jetzt mit Brettern vernagelt und leer. Ihre Postkästen quellen inzwischen über. Ungelesene Zeitungen liegen verstreut auf ihren absackenden Veranden und in ihren Vorgärten. Verlassene Autos stehen in ihren Auffahrten. Dickes knolliges Unkraut sprießt auf ihrem Rasen. In ihren Gärten welken die Tulpen. Streunende Katzen streifen umher. Letzte Waschladungen hängen noch immer auf der Leine. In einer ihrer Küchen – in der von Emi Saito – klingelt unablässig ein schwarzes Telefon.“
Hoffnung und Erwartung
Der Roman beginnt jedoch ganz anders, nämlich mit den Hoffnungen, Erwartungen und Sorgen tausender junger Japanerinnen, die per Schiff nach Amerika übersetzen, um dort die Bräute japanischer Gastarbeiter zu werden. Was die jungen Frauen nicht ahnen: die schmucken Bilder und blumigen Versprechungen ihrer Ehemänner entpuppen sich als dreiste Lüge. Statt an der Seite stattlicher Gentlemen werden sie die nächsten Jahrzehnte als Frauen bitterarmer Landarbeiter verbringen und auf den Feldern weißer Plantagenbesitzer schuften. Ihre Ankunft in den USA gestaltet sich entsprechend:
„Wir zogen an ihre Stadtränder, wenn sie uns ließen. Und wenn nicht – Sieh zu, dass der Sonnenuntergang dich in diesem County nicht findet, war auf manchen ihrer Schilder zu lesen -, fuhren wir weiter. Wir wanderten in ihren heißen, trockenen Tälern – dem Sacramento, dem Imperial, dem San Joaquin Valley – von einem Camp zum nächsten, und Seite an Seite mit unseren neuen Ehemännern beackerten wir ihr Land.“
Otsukas Stil ist faszinierend: Der Rhythmus ihrer Sätze, von denen jeder zweite eine Geschichte in der Geschichte zu erzählen scheint, trägt mich als Leserin durch den Roman. Schönes steht neben Schockierendem, Liebreiz neben Brutalität:
„Das erste Wort in ihrer Sprache, das man uns beibrachte, war Wasser. Ruf es ganz laut, sagten unsere Ehemänner, sobald du dich schwach fühlst auf dem Feld. „Lern dieses Wort“, sagten sie, „und rette dein Leben.“ Die meisten von uns lernten es, doch eine von uns – Yoshiko, die hinter hoch ummauerten Innenhöfen in Kobe von Ammen großgezogen worden war und noch nie in ihrem Leben einen Grashalm gesehen hatte – lernte es nicht. Nach ihrem ersten Tag auf der Marble Ranch ging sie zu Bett und wachte nicht mehr auf. „Ich dachte, sie schläft“, sagte ihr Mann. „Hitzschlag“, erklärte der Boss.“
Eine der im Klappentext zitierten Rezensionen nennt den Roman „poetisch und fesselnd“ – ja, das ist er tatsächlich. In Zeiten Donald Trumps und seinen Ausfällen muslimischen und mexikanischen Einwanderern gegenüber empfinde ich das Buch aber auch als sehr politisch. Bei seinem Erscheinen 2011 („The Buddah in the Attic“ im Original) nahm es gewissermaßen voraus, was sieben Jahre später erschreckend real ist.
Ganz klar: ein tolles Buch – auch in der deutschen Übersetzung sehr lesenswert!
Herzlich, Sunnybee
Julie Otsuka: Wovon wir träumten. Goldmann, 2014 (1. Auflage Taschenbuch; 2011 im englischen Original erschienen).
PS. Der aus „Star Trek“-Filmen als Lieutnant Sulu bekannte Schauspieler George Takei wurde als Kind übrigens in einem solchen US-Gefangenenlager interniert. Einen interessanten Artikel dazu findet ihr hier: Lieutnant Sulus Mission.
Krokodrillo. Oder: Was macht ein Zoo-Krokodil außerhalb der Öffnungszeiten?

Kinderbücher zu rezensieren ist für mich ein bisschen wie „Urlaub“. Urlaub vom erwachsenen, tendenziell wertenden und/oder zweckgebundenen Denken, von einem Blick auf die Welt, der an der Ebene des Offensichtlichen hängenbleibt, womit sich ihm meiner Meinung nach das Wunder der Welt verschließt.
Krokodrillo ist ein Buch, das genau dieses leicht Absurde und damit Faszinierende hinter dem Alltäglichen entdeckt. Ein Buch ganz ohne Worte, auf dessen kunstvoll illustrierten Seiten sich dennoch eine komplexe Geschichte entspinnt.
Was macht ein Zookrokodil außerhalb der Öffnungszeiten?
Krokodrillo beginnt seinen Tag wie jeder ordentliche Arbeitnehmer: der Wecker reißt ihn aus seinem Traum, er gewandet sich in Hemd, Krawatte und Jacket und pendelt mit der Metro zu seiner Arbeitsstätte. Dabei zwängt er sich zwischen den Mitreisenden hindurch zum Ausgang der Bahn, eilt die Treppen der Metrostation hinauf, ersteht ein gebratenes Hähnchen als Mittagessen sowie einen Strauß Blumen (für wen, sei nicht verraten), entkleidet sich schließlich im Umkleidebereich eines Bades (nicht ohne seine Straßenkleidung ordentlich in einem Spind zu verstauen) und tritt auf den letzten Seiten des Buches, nackt wie Gott ihn schuf, seinen Dienst an – als zähnezeigendes, regungslos hinter Glas verharrendes… Zookrokodil.
Wer hätte das gedacht? Und gerade deswegen ist das Buch ein wunderbarer „Lesespaß“! Wie im Leben entfaltet sich während des Betrachtens und Beschreibens der detail- und pointenreichen Bilder eine immer wieder neue Geschichte. Die äußere Handlung – Krokodrillos Weg zur Arbeit – bleibt gleich, aber die Wahrnehmung seines Weges verändert sich bei jeder Lektüre.
Mein Sohn (3) liebt das Buch und ich auch – Mmmm! 🙂
Giovanna Zoboli und Mariachiara di Giorgio: Krokodrillo. Bohem-Verlag. (Ab 2)
Post von Karlheinz. Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte
Karlheinz isst gern Döner beim Türken, aber Pegida findet er auch ganz gut. Sein Bauch ist von Bier und Pizza schon ganz rund und die letzte Rate ALGII wurde pünktlich überwiesen – das hindert ihn jedoch nicht daran, auf die „Wohlstandsschmarotzer“ zu schimpfen, die sein Land allmählich „überfremden“. Sein kleiner Bruder (Lippenbart und Seitenscheitel) wird noch deutlicher: „DU ARSCHLOCH DRECKSMOSLEM, ich zeig dich an wg. Sozialbetrug!!!“
Letzteres Originalzitat aus einer an ihn gerichteten Mail hat Hasnain Kazim, Journalist und Autor, neben anderen „Schätzen“ rassistischer Polemik in seinem klugen Werk „Post von Karlheinz. Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte“ versammelt.
Als Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer in Oldenburg geboren, bezog Kazim schon als 17-jähriger Gastautor einer überregionalen Zeitung Position gegen Fremdenfeindlichkeit und politische Stimmungsmache – und kassierte dafür seine ersten hasserfüllten Leserbriefe. Damals schüchterten ihn die Zuschriften nach eigener Aussage ein. Sein Buch mag also auch als eine Art Emanzipation verstanden werden von der Rolle des beschimpften „Anderen“. Kazim ist kein Opfer und er stellt sich auch nicht als (stumme) Projektionsfläche zu Verfügung. Statt dessen seziert und hinterfragt er – im Ton (fast) immer höflich und zugewandt -, was ihm die (oft anonymen) Schreiber „entgegenkotzen“. Sein erklärtes Ziel ist dabei nicht nur, sichtbar zu machen, dass dieser Hass existiert und wie „gesellschaftsfähig“ er teilweise bereits geworden ist. Darüber hinaus scheint ihm ein Anliegen zu sein, all die Derb- und Dummheiten, die hinausgegrölten Vorurteile ebenso wie die nur halblaut geäußerten Resentiments nicht unkommentiert zu lassen. Denn – so ein Zitat des jüdischen Autors und KZ-Überlebenden Elie Wiesel, das Kazim seinem Buch voranstellt: „Man muss immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den Peiniger, niemals den Gepeinigten.“
Ein sehr lesenswertes Buch, mit großer Klugheit und manch (unfreiwilliger) Komik.
Leseprobe:
Peter S. schreibt am 1. Februar 2016 um 7.09 Uhr:
Leute wie dich sollte man in Deutschland vergasen!!!!!!! Geh zurück zu deinen Kamelfickern! Muselpack hat bei uns nichts verloren, Islam gehört NICHT zu Deutschland! Hierzulande gehört es vernichtet und ausgerottet!
Meine Antwort um 08.30 Uhr:
Hallo Herr S.,
danke für Ihre Zuschrift und für Ihr Interesse an meiner Person. Ist das eigentlich die bei Ihnen übliche Art, Kritik zu äußern?
Mit freundlichen Grüßen, Hasnain Kazim
Er schreibt um 17 Uhr:
Sorry, ich wusste nicht, dass die Mails jemand liest. War nicht so gemeint, hatte keinen klaren Kopf, als ich das geschrieben habe. Wirklich sorry!
Die irrste Katze der Welt. Wie alles begann.
Was ist ein kleiner Elefant, der sich für eine Katze hält? Oder eine Katze, die zufällig einem Elefanten zum Verwechseln ähnlich sieht?
In der Menschenwelt würde man so etwas dissociative identity disorder nennen. In Gilles Bachelets absurd komischem Kinderbuch ist dieser Elefant die „irrste Katze der Welt“…
Ganz nach Katzenmanier schmust er und döst vor sich hin, versucht den Goldfisch aus seinem Bassin zu angeln und zerfetzt sein Kuscheltier – um sich am Ende in die Gummikarotte des Nachbarhundes zu verlieben…
Funk statt Fuji
Die Zeichnungen erinnern mit ihren zarten Linien und der harmonischen Farbgebung an japanische Landschaftsmalerei. Aber statt des Fujis geht hier der Funk ab – seit das Elefantatzentier das Zuhause des Künstlers in Beschlag genommen hat, ist dort nichts mehr, wie es einmal war…
Ein herrlich absurder Spaß für große Leserinnen und Leser und ihre kleinen Zuhörer und Zuhörerinnen! 🙂
Leseprobe:
„Was gibt es Rührenderes als einen Wurf Kätzchen, die ihre kleinen Rüssel auf der Suche nach der Muttermilch hin und her bewegen? Wenn Ihnen bei einem solchen Anblick das Herz aufgeht, lassen Sie sich hier erzählen, wie eines von ihnen, komme was wolle, meine liebste, dickste und irrste Katze der Welt wurde.“
Gilles Bachelet: Die irrste Katze der Welt. Wie alles begann. Gerstenberg Verlag. (Ab 3)