Folge 4: Zocken und Matschburgen bauen – Kinder zwischen Medien und Natur
Die Nutzung digitaler Medien ist in unserem Alltag inzwischen selbstverständlich – für unsere Kinder oft noch mehr als für uns. Aber was ist unsere Haltung als Eltern dazu? Wieviel „Medienzeit“ ist für unsere Familie okay? Und welchen Umgang mit digitalen Medien wollen wir unseren Kindern vorleben? Ein weiteres „Schatzkisten-Gespräch“ zwischen der Berliner Autorin Bernadette Conrad und mir.
Wer wir sind?
Bernadette Conrad, Mutter einer inzwischen 19-jährigen Tochter, Journalistin, erfolgreiche Autorin (u.a. „Groß und stark werden. Kinder unterwegs ins Leben“, „Die kleinste Familie der Welt“) und seit Geburt ihrer Tochter alleinerziehend und Sarah Zöllner, Mutter eines vierjährigen Sohnes, getrennt erziehend, Lehrerin in der Erwachsenenbildung und seit kurzem ebenfalls Autorin ihres ersten Buches („Alleinerziehend – und nun? Texte der Stärkung bei Trennung und Verlust“).
Bernadette:

Es ist ein schlechter Moment, um kritisch über Digitalisierung zu sprechen. Tablet-Klassen, Online-Unterricht, die seit langem geplante Digitaloffensive an Schulen hat durch Corona und all seine Folge-Maßnahmen einen machtvollen Schub nach vorne erhalten. Gerade Schule steht im Zeichen der Digitalisierung wie noch nie.
Und überhaupt, warum sollte ich das auch tun? Profitiere ich nicht selbst ständig von den Möglichkeiten des quasi Live-Austauschs, den Whatsapp zum Beispiel bietet, wenn meine 19jährige im Ausland und auf Reisen ist? Oder der schnelle Austausch mit Freundinnen. „Wie war das Gespräch mit deinem Chef heute morgen?“ „Bist du immer noch im Krankenhaus, soll ich vorbeikommen?“ Wenn ich selbst unterwegs bin – undenkbar, auf die Apps der Deutschen Bahn oder Berliner Verkehrsbetriebe zu verzichten. Auch beruflich. Als ein Literaturfestival im Frühjahr ausfiel, machten die Veranstalter*innen einen online-Ersatz im großen Stil möglich; ich moderierte online, nahm an einem Radiogespräch dank App teil, hatte auch vor Corona für ein Buch die Möglichkeit der Skype-Interviews genutzt.
Digitale Medien sind keine Bedrohung…
Warum also sollte ich über etwas schimpfen, das auch in meinem Leben längst zu einer festen Größe geworden ist? „Es ist auch bei uns jungen Leuten nicht so, dass die Gesprächskultur verschwindet“, sagte mir kürzlich eine junge Zuhörerin bei einer Lesung: „Wir nutzen halt diese Kanäle. Audios sind super, wenn man jemandem genau jetzt was erzählen will, aber der andere es sich dann anhört, wenn er oder sie Zeit hat. Das sind technische Möglichkeiten, die Gespräche ja eher erweitern…“
Sie hat Recht. Sorgen macht mir etwas anderes. Sorgen macht mir, wenn ich, wie gestern, in der Sitzgruppe neben mir im Zug, beide Eltern mit ihrem Smartphone beschäftigt sehe und die vielleicht Vierjährige, die eine ganze Fahrt lang vergeblich um die Aufmerksamkeit der Eltern bettelt. Sorgen macht mir, wenn ich eine Mutter auf ihr Handy schauen sehe, das in der Aufsteckvorrichtung im Kinderwagen steckt, statt in die Augen ihres Kindes. Sorgen macht mir, wie oft ich sehr kleine Kinder mit Smartphone oder Tablet „ruhiggestellt“ sehe. Das Argument, die Kinder könnten gar nicht früh genug damit anfangen, in die hochtechnologisierte, digitale Welt hineinzuwachsen und die dort erforderlichen Fertigkeiten zu erlernen, ist „das“ Argument der Stunde, – und doch.
… aber Kinder brauchen echten Kontakt
Wir sind und bleiben soziale Wesen; wir sind und bleiben an unsere ganz und gar analogen Körper gebunden, wir leben (noch) in einer Welt, die wir vor allem mit unseren physischen und sinnlichen Möglichkeiten bewältigen, die wir mit unseren Sinnen erleben. Die Luft, die jetzt gerade anfängt nach Herbst zu riechen. Der See, in den ich gerade noch – schon bibbernd – hineingehe, die Kühle des Wassers auf der Haut. Die Ausstrahlung eines Menschen. Die Stimmung in einem Raum. Die Bedeutung von Blickkontakten, Berührungen: um nur ein paar Aspekte des sinnlichen Repertoires zu nennen, das wir als kleine Kinder erwerben und mit dem wir durch die Welt gehen werden. Dazu kommen im Kindergarten- und Schulalter die geistigen Grundbausteine: Lesen heißt ja nicht nur einen Text entziffern, sondern heißt auch: verstehen lernen; heißt: geistige Strukturen entwickeln, die allmählich befähigen, selbst zu denken, Texte im Kopf zu verarbeiten, selbst etwas zu schreiben – und so weiter. Diese Basis-Fähigkeiten, die ins Grundschulalter gehören, müssen erlernt, ja, erobert werden, ohne dass überall Geräte bereitliegen, die ablenken und an die man Aufgaben delegieren kann.
Ich weiß: Man könnte mir vorhalten, das wäre von gestern und auch ich könnte heute kein Kindergarten- und erst recht Grundschulkind mehr an den Digital Gadgets und sozialen Medien vorbeiführen. Nicht? Vielleicht braucht es ja auch manchmal den Mut, nicht mit dem Mainstream zu schwimmen? Ein Gerät nicht schon dann zu kaufen, wenn „alle anderen“ (was meist nicht stimmt) es schon haben?
Egal, wie man zu digitalen Medien steht, eines scheint mir sicher: Der Speicher, in dem jedes Kind dieser Welt die Erfahrungen und Erinnerungen seiner Kindheit sammelt, wird für ein ganzes Leben wirksam sein. Die Zelturlaube, die Picknicks am See, die Fahrradtouren, die Zugreisen mit offenen Augen, die Vorleseabende, die man gemacht – oder nicht gemacht hat, sind bedeutsam. Wenn in diesem Speicher möglichst viel drin ist, was mit Begegnung und Angeschautwerden, mit zusammen erlebter Natur, mit Gemeinschaft und körperlich erlebter Geborgenheit, aber auch mit Abenteuer zu tun hat, ist die Gefahr, später verlorenzugehen in den Abenteuern der digitalen Welt, kleiner. Die Gefahr, süchtig zu werden, ist je kleiner, desto mehr Möglichkeiten der Welterfahrung mein Körper und mein Geist früh kennengelernt hat.
Diese ersten zehn Lebensjahre kehren nie wieder – das Angewiesensein unserer Kinder auf unsere Präsenz, ihre Sehnsucht nach unserer Gesellschaft, nach Abenteuern, die sie mit uns erleben: Das ist, was meiner Meinung nach immer noch dafür spricht, diese Lebenszeit so digital „abstinent“ zu halten wie es irgend geht…
Sarah

Ich selbst bin die ersten Jahre meines Lebens quasi „digital abstinent“ aufgewachsen. Meine Eltern schafften sich einen Fernseher an, als ich zehn war. Einer der ersten Filme, die ich sah, war „Ronja Räubertochter“, nach dem Roman von Astrid Lindgren. Das erste Mal sah ich ihn bei Freunden meiner Eltern noch in schwarzweiß, dann, mit unserem „Familienfernseher“, in Farbe. Ich weiß noch, wie mich das Grün der Wälder im Film überwältigte. Später dann trafen wir uns als gesamte Familie immer sonntags zur gemeinsamen „Sendung mit der Maus“ und noch etwas später abends zu den Irrungen und Wirrungen der „Schwarzwaldklinik“. Nachmittags sendeten die drei öffentlich-rechtlichen Programme, die meine Eltern mit dem Gerät empfingen, auch schon mal das Standbild des Senders oder musikuntermalte Landschaftsaufnahmen.
Wenn ich jetzt über diese Erfahrungen spreche, klingen sie – auch für mich – wie eine Erzählung aus ferner Zeit. Aber nein, sooo lange ist das noch gar nicht her. Ich spreche von einer Kindheit in den 1980er Jahren…
Mein Medienkonsum heute
Heute nutze ich digitale Medien ganz selbstverständlich. Signal oder Skype, soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter oder eben meinen Blog. Auch ohne als „Digital Native“ mit Smartphone und Co aufgewachsen zu sein, bewege ich mich in der digitalen Welt sicher und relativ entspannt. Eine gewisse Grundskepsis ist mir aber geblieben. Gespräche führe ich auf jeden Fall lieber persönlich als im Video-Call und vertrödle ich zu viel Zeit in sozialen Netzwerken, merke ich, dass mich das gereizt und angespannt macht. Das Sammeln von immer weiteren Kontakten oder auch Besuchern meiner Website kann mir einen kurzfristigen Kick verschaffen – wirklich befriedigend ist es nicht.
Einen ähnlichen Effekt bemerke ich bereits bei meinem Sohn, natürlich ohne eigenen Blog und Instagram-Account… Während der Corona-Krise haben sich Gewohnheiten in unseren Alltag eingeschlichen, die er inzwischen vehement einfordert. Jedes Mal eine Folge „Sendung mit der Maus“ vor dem Mittagsschlaf? Er will in Papas Wohnung, weil er da Tablet gucken darf? Auf der Autofahrt die Mal-App für Kinder? Nicht die Mediennutzung an sich stößt mir daran auf, sondern, dass ich merke, wie rasch er sich an diese gewöhnt hat und sie zunehmend auch einfordert. Auf mehr als eine halbe Stunde „Medienzeit“ pro Tag kommen wir da – jedenfalls am Wochenende – auf jeden Fall. Und er ist vier…
Andererseits streift unser Sohn mit seinem Papa durch den Wald und bastelt mit ihm aus bemalten Stöcken Vogelscheuchenmenschen. Ich gehe im Sommerregen mit ihm vor die Tür, wir backen zusammen und machen mit dem Rad Wettrennen durch den Park. Vorlesen ist auch nachwievor unser Abendritual. Also eine gute Balance aus dem Leben „mit allen Sinnen“ und digitalem Konsum?
Wie will ich mit meinem Kind digitale Medien nutzen?
Wie wird das in fünf bis sechs Jahren aussehen, wenn seine Freunde ihr erstes Handy bekommen? Werden auch wir ihm bereits mit neun oder zehn Jahren ein Smartphone kaufen? Werden sein Vater und ich uns darüber streiten? Und werden bis dahin bereits ganz andere Technologien alltäglich sein? Mit heute noch ganz unbekannten Folgen für unsere Kommunikation und die Art, wie wir Kontakte pflegen?
Vermutlich ist der beste Weg, dass ich mir weiter treu bleibe, kein Interesse und keine Zustimmung heuchle, wo ich Apps und Co wenig sinnvoll finde. Und mich ansonsten bewusst auch den digitalen Formen der Unterhaltung öffne, um zu erfahren, was meinem Kind, das mit diesen nunmal aufwächst, daran gefällt. Werde ich später mit ihm FIFA zocken, so wie ich jetzt mit ihm zusammen Autos in der Mal-App mit einem Fingertippen umgestalte? Wenn ich ganz ehrlich bin, wohl eher nicht. Digitales Gedaddel zur Entspannung macht mir jetzt schon keinen Spaß. Aber vielleicht werde ich ehrlich begeistert die YouTube-Clips bewundern, die er gestaltet hat, oder ihm auch mal einen Text zu lesen geben, den ich selbst online gestellt habe.
Auch jetzt schon reizt mich das selbst Machen und Gestalten mehr als bloße Ablenkung und Konsum (wobei ich die digitalen Möglichkeiten natürlich auch dazu nutze). Ich denke, dass ich heute überhaupt weiß, was mich interessiert und wofür ich mich – auch auf digitalem Weg – einsetzen will, verdanke ich einer Kindheit, in der ich viel Raum hatte für Fantasie und dafür, mich selbst zu beschäftigen – inklusive der davor obligatorischen Langeweile. Das wünsche ich mir, ehrlich gesagt, auch für unseren Sohn. Eine Kindheit, in der Erfahrungen sich sammeln und verdichten können zu eigenen Gedanken. In der statt Ablenkung das Machen und Erleben im Mittelpunkt steht. Ob das dann die Abenteuer des Serienhelden auf dem Tablet sind, bei denen er mitfiebert und die er anschließend als Rollenspiel nachspielt, oder das Stöbern im Wald, versuche ich erst einmal nicht als unterschiedlich „wertvoll“ zu betrachten. Auch ein gut gemachter Film oder ein tiefsinniger Kommentar im Online-Magazin kann uns Erwachsene berühren – warum sollte das bei Kindern anders sein und warum sollten wir es ihnen komplett verwehren?
Sie wachsen mit den Möglichkeiten unserer digitalen Welt auf. Ich möchte, dass mein Sohn sie irgendwann (auch) nutzt, um seine eigene Welt zu gestalten und nicht hängen bleibt beim bloßem „Abschalten“ via digitalem Konsum. Wie ich ihm dafür den Grundstein legen kann? Durch mein wirkliches Interesse an ihm. Durch die Energie und Zeit, die ich ihm schenke. Und durch mein gutes Vorbild, indem ich mich eben selbst von digitalen Medien nicht nur ablenken und berieseln lasse.
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Unsere nächste Schatzkiste?
Unsere nächste „Schatzkiste für kleinste Familien“ findet ihr hier im Blog am 03. Oktober 2020 (immer am ersten Samstag im Monat). Das Thema: „Das war schon immer so – wir machen das anders: Familienwerte und Traditionen“ Wir freuen uns auf euch!:-)
Bereits erschienen:
Folge 1 „Flexibilität“ (Juni 2020)
Folge 2 „Streiten mit Kind“ (Juli 2020)
Folge 3 „Typisch Mann – typisch Frau? Rollenbilder und Klischees“ (August 2020)
Folge 4 „Zocken und Matschburgen bauen – Kinder zwischen Medien und Natur“ (September 2020)
Herzlich: Sarah und Bernadette
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[Fotos: privat, Sofia Wagner Fotografie]
2 Gedanken zu „Schatzkiste für kleinste Familien: Impulse für das Leben allein mit Kind (4)“