alleinerziehend, Familie, Partnerschaft

Wo Wildblumen wachsen: Vom Umgang mit Verlust

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Steve Rahmn hatte ein Haus. Eine Garage, einen Vorplatz mit Gartenzaun; Kleiderschränke, Küchenregale, Schlafzimmer, ein Bad – bis zur Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 2017, als ein Flächenbrand in Kalifornien innerhalb weniger Stunden all das zerstörte. Jetzt wachsen dort, wo einmal sein Haus war, Wildblumen. 

Rahmn selbst plant, an dieselbe Stelle ein neues Haus zu bauen, mit Geld, das die Versicherung ihm nach dem Brand gezahlt hat. Er spricht von Gemeinschaftssinn, den das Feuer geweckt habe: mit anderen Anwohnern hat er eine Organisation gegründet, an die sich Betroffene wenden können, wenn sie beim Umgang mit Versicherungen oder Behörden Hilfe brauchen. Rahmn spricht auch davon, dass er den ganzen „stuff“, den er über die Jahre angesammelt habe, eigentlich nicht brauche. Auf einem Foto steht er mit Frau und dreijährigem Sohn vor seinem Grundstück: hinter ihm Brachland, aber er wirkt eher entschlossen als verzweifelt. 

Wie gehen wir mit Verlust um?

Hab und Gut, unser Zuhause, das ist das Eine. Uns nahe stehende Menschen zu verlieren, ist noch einmal etwas anderes. Aber letztlich bleibt die Frage: hadern wir und klagen, oder nehmen wir den Verlust an wie Rahmn das Feuer, das ihm und seiner Familie (materiell) fast alles genommen hat – und ihm zugleich einen echten Neuanfang ermöglicht? Eine Brache ist auch der Ort, wo Wildblumen wachsen können. Wo ich Schmerz und Verlust wahrnehme, ist immer auch die Möglichkeit, dass Neues entsteht. 

Blick voraus – und zurück 

Rahmn geht seinen Neuanfang scheinbar hemdsärmelig an. Aber ausschlaggebend war für ihn, dass er, wie er sagt, nach dem Brand in den Trümmern seines Hauses eine Gürtelschnalle seines Vaters wiederfand. Zumindest dieser Teil seiner Vergangenheit war nicht ausgelöscht. Wie er sagt, wusste er erst da, dass er sein Haus wieder aufbauen wollte. 

Ich bin der Meinung, dass wir nicht wirklich weiter kommen ohne die Verbindung zu unserer Vergangenheit und zu unseren Wurzeln. Wollen wir, nach einer Trennung oder einem Todesfall, den Schmerz „eindämmen“, indem wir kompromisslos alles Vergangene hinter uns lassen, kann genau das uns daran hindern, unseren Verlust zu akzeptieren. Wie Rahmn nach etwas noch Bestehendem suchte, müssen auch wir nach Dingen suchen, die weiter Bestand haben. Jeder Verlust geht mit Zerstörung einher (manchmal ganz praktisch in Form einer Aufteilung gemeinsamen Besitzes, manchmal als Verlust gewohnter Strukturen und gemeinsamer Hoffnungen und Ziele), aber wirklich alles kann gar nicht zerstört werden. Unsere Aufgabe ist es, Rahmns „Gürtelschnalle“ zu finden, das Teil, das uns die Hoffnung zurückgibt und uns weitermachen lässt. 

Ist das nicht der Sinn des Lebens: es geht weiter und nichts geht je wirklich verloren – auch wenn wir lernen müssen, dem Verlust selbst immer wieder ins Auge zu sehen?

Herzliche, nachdenkliche Grüße, Sunnybee

Gesellschaft, Kunst, Persönliches

Wovon wir träumten

Wovon wir traeumten von Julie Otsuka

120.000. 

Die Einwohner einer Stadt wie Göttingen oder Wolfsburg: von einem Tag auf den anderen in riesige Gefangenenlager gepfercht, ihrer Wohnungen, ihres Einkommens, ihrer Berufe und Besitztümer beraubt, ohne Anklage und juristische Begründung. Männer, Frauen und Kinder. Dies alles ereignet sich in einer Demokratie, aufgrund eines einzigen Kriteriums: der Herkunft dieser Menschen.

Sie verschwinden wie Geister

Unmöglich? Und doch so geschehen 1942, in den Vereinigten Staaten von Amerika. 120.000 japanische Gastarbeiter und ihre Familien wurden zunächst als „unwanted aliens“, unerwünschte Fremde, diskriminiert und isoliert und schließlich jahrelang in riesigen Gefangenenlagern festgehalten und zur Zwangsarbeit verpflichtet. Das alles ohne nennenswerten Protest ihrer Nachbarn, Arbeitgeber, Freunde und Bekannten. In den Geschichtsbüchern bleibt das Geschehen für Jahre eine Randnotiz, erst Ende der 1980er Jahre wird es thematisiert, werden Gedenkstätten an den Orten der Lager errichtet.

Julie Otsuka schreibt in ihrem Roman „Wovon wir träumten“ über dieses eigentlich unglaubliche Geschehen. Tatsächlich wirkt die Umsiedlung der Japaner in die Gefangenenlager in den letzten zwei Kapiteln ihres Werkes zugleich real und wie ein böser Traum: 

„Einige von uns gingen weinend. Und einige von uns gingen singend. Eine von uns hielt sich hysterisch lachend die Hand vor den Mund. Einige von uns gingen betrunken. Andere von uns gingen schweigend, mit hängenden Köpfen, betreten und verschämt.“

Da mir dieses Kapitel US-amerikanischer Geschichte vor dem Lesen des Buches tatsächlich unbekannt war, musste ich mich erst informieren, ob es wirklich geschehen sein konnte, dass zehntausende Menschen von einem Tag auf den anderen aus amerikanischen Metropolen verschwanden wie Geister: 

„Die Japaner sind aus unserer Stadt verschwunden. Ihre Häuser sind jetzt mit Brettern vernagelt und leer. Ihre Postkästen quellen inzwischen über. Ungelesene Zeitungen liegen verstreut auf ihren absackenden Veranden und in ihren Vorgärten. Verlassene Autos stehen in ihren Auffahrten. Dickes knolliges Unkraut sprießt auf ihrem Rasen. In ihren Gärten welken die Tulpen. Streunende Katzen streifen umher. Letzte Waschladungen hängen noch immer auf der Leine. In einer ihrer Küchen – in der von Emi Saito – klingelt unablässig ein schwarzes Telefon.“

Hoffnung und Erwartung

Der Roman beginnt jedoch ganz anders, nämlich mit den Hoffnungen, Erwartungen und Sorgen tausender junger Japanerinnen, die per Schiff nach Amerika übersetzen, um dort die Bräute japanischer Gastarbeiter zu werden. Was die jungen Frauen nicht ahnen: die schmucken Bilder und blumigen Versprechungen ihrer Ehemänner entpuppen sich als dreiste Lüge. Statt an der Seite stattlicher Gentlemen werden sie die nächsten Jahrzehnte als Frauen bitterarmer Landarbeiter verbringen und auf den Feldern weißer Plantagenbesitzer schuften. Ihre Ankunft in den USA gestaltet sich entsprechend: 

„Wir zogen an ihre Stadtränder, wenn sie uns ließen. Und wenn nicht – Sieh zu, dass der Sonnenuntergang dich in diesem County nicht findet, war auf manchen ihrer Schilder zu lesen -, fuhren wir weiter. Wir wanderten in ihren heißen, trockenen Tälern – dem Sacramento, dem Imperial, dem San Joaquin Valley – von einem Camp zum nächsten, und Seite an Seite mit unseren neuen Ehemännern beackerten wir ihr Land.“

Otsukas Stil ist faszinierend: Der Rhythmus ihrer Sätze, von denen jeder zweite eine Geschichte in der Geschichte zu erzählen scheint, trägt mich als Leserin durch den Roman. Schönes steht neben Schockierendem, Liebreiz neben Brutalität:

„Das erste Wort in ihrer Sprache, das man uns beibrachte, war Wasser. Ruf es ganz laut, sagten unsere Ehemänner, sobald du dich schwach fühlst auf dem Feld. „Lern dieses Wort“, sagten sie, „und rette dein Leben.“ Die meisten von uns lernten es, doch eine von uns – Yoshiko, die hinter hoch ummauerten Innenhöfen in Kobe von Ammen großgezogen worden war und noch nie in ihrem Leben einen Grashalm gesehen hatte – lernte es nicht. Nach ihrem ersten Tag auf der Marble Ranch ging sie zu Bett und wachte nicht mehr auf. „Ich dachte, sie schläft“, sagte ihr Mann. „Hitzschlag“, erklärte der Boss.“

Eine der im Klappentext zitierten Rezensionen nennt den Roman „poetisch und fesselnd“ – ja, das ist er tatsächlich. In Zeiten Donald Trumps und seinen Ausfällen muslimischen und mexikanischen Einwanderern gegenüber empfinde ich das Buch aber auch als sehr politisch. Bei seinem Erscheinen 2011 („The Buddah in the Attic“ im Original) nahm es gewissermaßen voraus, was sieben Jahre später erschreckend real ist. 

Ganz klar: ein tolles Buch – auch in der deutschen Übersetzung sehr lesenswert!

Herzlich, Sunnybee 

Julie Otsuka: Wovon wir träumten. Goldmann, 2014 (1. Auflage Taschenbuch; 2011 im englischen Original erschienen).

PS. Der aus „Star Trek“-Filmen als Lieutnant Sulu bekannte Schauspieler George Takei wurde als Kind übrigens in einem solchen US-Gefangenenlager interniert. Einen interessanten Artikel dazu findet ihr hier: Lieutnant Sulus Mission.