Gesellschaft, Hochsensibilität, Persönliches

Kater Mau Tse-Tung. Oder: „Wenn Sie lachen, haben Sie ein wunderschönes Gesicht!“

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Mittagspause: 50 Minuten Zeit zwischen meiner Arbeit und dem Abholen meines Sohnes aus der Kita. Ich beschließe, mir in einer Bäckerei auf dem Weg ein belegtes Brötchen und eine Tasse Kaffee zu holen.

Haben Sie eine Katze?

An einen der Stehtische gelehnt, trinke ich gerade den ersten Schluck, als zwei Herren das Ladenlokal betreten: der eine schätzungsweise Anfang 60, der andere um die 70, schlohweißer Vollbart, Typ emeritierter Privatdozent. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie die zwei umständlich parlierend ihre Bestellung aufgeben. Schließlich stehen sie am Stehtisch neben mir.
„Haben Sie eine Katze?“, beginnt der Ältere der beiden unverzüglich das Gespräch. Etwas verblüfft verneine ich. Das bringt den Herrn jedoch nicht aus dem Konzept: „Aber Sie kennen doch sicher jemanden, der eine Katze hat, oder?“, fährt er fort, um unvermittelt das Thema zu wechseln: „Lesen Sie Bücher? Also, auf Papier?“ Diesmal nicke ich. „Wunderbar!“, der Herr strahlt: „Dann hätte ich genau das Richtige für Sie – sehen Sie, eine Leseprobe…“ Er schiebt mir ein Blatt Papier zu. Offensichtlich eine Rezension, zuoberst der Titel: „Kater Mau Tse-Tung. Wie man einen Menschen hat oder: Über die artgerechte Haltung von Zweibeinern“.

Kater Mau und sein Sekretär

Abwartend sehe ich mein Gegenüber an. „Ich bin nur der Sekretär“, fährt dieser fort. „Sie verstehen, mein Kater Mau… großes Werk der Katzenliteratur… bescheidene Mitwirkung meinerseits… Gedanken des Verfassers per Telepathie übertragen und von mir niedergeschrieben…“ Meine Verblüffung ist mir sicher anzusehen. Zugleich beginnt mich das Gespräch zu amüsieren. Die Herren wirken eigentlich ganz „normal“. Feine Ironie blitzt aus den Augen des Weißbärtigen, während er mir die Vorzüge seines Werks (pardon: das des Katers) beschreibt. Er möchte es mir tatsächlich zum Kauf empfehlen.
„Aha, Mau/Mao Tse-Tung, eindeutige kulturelle Referenzen! -“, steige ich, mit Anspielung auf den Titel, in das Gespräch ein. „Aber gewiss!“, der Herr nickt eifrig: „Sehen Sie, hier -“ Er zeigt auf den ersten Absatz der Rezension. Ich überfliege ihn:

„Dieses sensationelle Sachbuch über die kaum bekannten Hintergründe einer nachhaltigen Menschenerziehung durch das Volk der Hauskatzen sollte in keiner Bibliothek fehlen. Lüftet es doch den Schleier über Geheimnisse und Verfahren, mit deren Hilfe es den Samtpfoten seit Jahrtausenden gelingt, den hoffnungslos in seinen defekten „höheren Ideen“ verlorenen Zweifuß vor dem Allerschlimmsten zu bewahren und ihn sanft aber gnadenlos seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen: der Hege und Pflege, der Bewunderung und Verehrung, der Verwöhnung und Verschmusung der Katzentiere – so, wie es sich gehört!“

Ich muss ihm zustimmen, dass die Welt auf ein solches Werk gewartet hat!

Gesang und Komplimente

Nun ja, das Gespräch geht in dieser Form noch eine Weile weiter, der etwa 60-jährige Herr mischt sich zwischenzeitlich als „Sidekick“ ein, bzw. geht mäßigend dazwischen, wenn seinen Begleiter die Begeisterung zu allzu umfangreichen Monologen hinzureißen droht. Auch eine kurze Gesangseinlage der extra von „Kater Mau“ vertonten und im Buch enthaltenen Kompositionen wird mir geboten… Alles in allem eine wunderbar absurde Situation zwischen Quarkstrudeln und Puddingteilchen!

Nach etwa zehn Minuten habe ich mein belegtes Brötchen verzehrt und verabschiede mich, nicht ohne den beiden viel Erfolg bei der Verbreitung ihres Werks zu wünschen. „Sie haben mich zum Lachen gebracht, danke für das Gespräch!“, rufe ich ihnen zu. Als ich bereits dabei bin, mein Fahrrad neben dem Eingang aufzuschließen, kommt mir der etwa 60-jährige Herr noch hinterher: „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn Sie lachen, haben Sie ein wunderschönes Gesicht!“

Ich muss noch einmal lachen, bedanke mich herzlich und fahre breit grinsend und kopfschüttelnd davon.

Was will mir das sagen?

Und wäre mir das alles nicht genau so heute, am 13. Juni 2018, passiert, ich würde es wohl nicht glauben. So bin ich froh, dass ich zu Beginn des Gesprächs nicht einfach gebrummt habe: „Kein Interesse“. Denn hätte ich sonst solch eine nette, absurde, herzwärmende Begegnung mit Kater Mau Tse-Tung und seinen Fürsprechern gehabt?

Ein Lob auf das Leben, das sich oft dort am lebendigsten zeigt, wo man es am wenigsten erwartet!

Herzliche Grüße, Sunnybee

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Schneckentanz: Trauer und Freude nach einer Trennung

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Trauer endet nicht mit dem Zustand, traurig zu sein. Und Freude beginnt nicht erst dort, wo alle Trauer überwunden ist.

Liest man über die Verarbeitung von Trennungen – oder grundsätzlich über Trauerprozesse – entsteht leicht der Eindruck, diese seien eine Abfolge von Phasen, die linear verlaufen: das Nicht-Wahrhaben-Wollen des Verlusts, anschließend Wut und Trauer darüber, schließlich das Anerkennen der Situation und die vorsichtige Neuöffnung.

Meiner Meinung nach erweckt das falsche Erwartungen. Wie oft, in einer an „Zielen“ orientierten Situation („Ich will wieder glücklich sein“, „Ich will die Trennung überwinden“) entsteht allzu leicht Ungeduld: „Wann endet denn endlich die Wut, die Trauer, wann bin ich soweit, dass ich, auch innerlich, loslassen kann?“ Oder, wenn ich bereits einmal das Gefühl von Leichtigkeit, einem möglichen Neuanfang, gespürt habe: „warum kommt dann wieder die ‚doofe Trauer‘?“ „Bin ich denn immer noch nicht über ihn oder sie hinweg?“ „Habe ich nicht ‚richtig‘ getrauert, dass ich jetzt nicht loslassen kann?“

‚Gute‘ und ‚schlechte‘ Gefühle

Völliger Quatsch, solche Gedanken. Aber nur zu verständlich. Wir wollen die ‚guten Gefühle‘ haben: Freude, Unternehmungslust, Neugier und Offenheit für das Leben. Und nicht Wut, Trauer, Schmerz, Erschöpfung, Abwehr, Verwirrung, Furcht, Angst und was sich sonst noch in den Tiefen unserer Seele tummelt…

Auch unsere Gesellschaft unterstützt nur in einem klar abgesteckten Rahmen den Ausdruck dieser ‚negativen‘ Gefühle. Nach dem Verlust eines Partners – oder gar Kindes – durch den Tod noch am ehesten. Bei der Trauerfeier natürlich und auch in den Wochen danach. Da kommen Nachfragen: „Wie geht es dir?“ „Kann ich dich unterstützen?“ – jedenfalls, wenn man gute Freunde hat. Aber selbst in diesen Fällen reicht die Aufmerksamkeit – und wirkliche Anteilnahme – oft nur in die ersten Wochen und Monate hinein. Irgendwann ändern sich die Fragen: „Geht es dir schon besser?“ „Was sind deine Pläne für die Zukunft?“ Das hat seine Berechtigung und kann hilfreich sein in dem Sinn, als dass es voraussetzt, was ja stimmt: das Leben geht weiter. Kein Schmerz, und sei er noch so brennend, und keine Verzweiflung, selbst tiefe Trauer, wird so bleiben, wie sie zu Beginn war. Selbst das Bild des geliebtesten Menschen verändert sich in uns mit der Zeit, wird keinesfalls ‚blasser‘, aber doch ‚reflektierter‘, in dem Sinn, dass wir beginnen, uns Geschichten zu dem oder der Verlorenen zu erzählen: „Das haben wir immer so gemacht“ oder „Er oder sie war oft so“, „Das mochte er oder sie (nicht)“. Von der Erzählung ist es nicht weit zur Erinnerung – und die ist schon der Schritt, das Erlebte in unser Leben einzubetten. Woran wir uns – irgendwann – mit klarem Gefühl, womöglich sogar mit Freude, erinnern können, das haben wir tatsächlich „verarbeitet“: es in uns aufgenommen, ohne uns darin zu verlieren.

Leben in Spiralen

Bis zu diesem Punkt, der Verarbeitung des Vergangenen und einem wirklichen Neuanfang, braucht es allerdings oft sehr viel Zeit. Viel mehr Zeit, als unsere Umwelt – und vielleicht auch wir selbst – uns möglicherweise zugestehen wollen.

Und die Bewegung ist meiner Erfahrung nach gerade NICHT linear. Das heißt, auf Trauer, Wut und Schmerz folgt grundsätzlich zwar schon Loslassen und Akzeptanz. Aber nicht einmalig und dann nie wieder. Jeder, der schon einmal einen Verlust zu betrauern hatte, kennt diese Situationen: Ein Lied, zufällig im Radio gehört, eine – vielleicht auch schöne – Begegnung mit einem anderen Menschen oder schlicht Momente der Müdigkeit und Erschöpfung – und plötzlich ist die ganze Trauer, Wut, oder auch Verwirrung wieder da – zu einem Zeitpunkt, an dem man glaubte, beziehungsweise sich vielleicht auch wünschte, sie längst „überwunden“ zu haben.

Trauerprozesse verlaufen meiner Erfahrung nach in der Form einer Spirale: ich kehre in gewisser Weise immer wieder zu meinen „Schmerzpunkten“ zurück, aber zeitlich und durch meine neu hinzugewonnenen Erfahrungen ‚versetzt‘, eben nicht in derselben Intensität. Trauer und Wut, bzw. die Aspekte, die mich beschäftigen, sind dieselben, aber mein Standpunkt verändert sich. Ich „entferne“ mich also durchaus von den unmittelbaren Gefühlen, allerdings nicht, indem ich ihnen für immer und endgültig ‚den Rücken kehre‘, sondern, indem ich mich abwende von Schmerz und Trauer, vielleicht kurze Momente nur – um mich ihnen dann wieder zuzuwenden, allerdings aus einer anderen, im besten Fall weniger schmerzlichen, Perspektive.

Sich mit dem Leben bewegen

Dieser ganze Prozess geschieht meiner Erfahrung nach so oder so. Ich kann versuchen, ihn zu ignorieren, indem ich im unmittelbaren Gefühl stecken bleibe: diese Intensität macht meine Seele aber nur eine Weile mit. Irgendwann verhärtet sie sich, allein aus Selbstschutz, und ich werde bitter oder depressiv. Oder aber – und die Tendenz nehme ich gerade nach einer, vielleicht sogar „gewollten“, Trennung wahr: Ich will so schnell wie möglich ‚weiter‘, will die unmittelbaren Gefühle nicht mehr spüren: „Das Leben soll wieder schön sein! Der (oder die) soll keine Rolle mehr in meinem Leben spielen!“

Beide Arten des Umgangs mit seelischem Schmerz können meiner Meinung nach gar nicht funktionieren – weil das Leben schlicht nicht so ‚gedacht‘ ist. Schaut euch alle Prozesse in der Natur an: Bäume, die im Herbst ihre Blätter verlieren, im Winter kahl dastehen und im Frühjahr neue Blätter treiben – sind das dieselben Blätter wie im Vorjahr? Nein. Aber ist es ein ganz neuer Baum? Das auch nicht. Die Natur kehrt also in gewisser Weise zu ihrem Ausgangspunkt zurück: im Neuen ist das Alte mit enthalten – eine Spiralbewegung eben.

In diesem Sinn: lasst uns auf Trauerwegen, nach Verlust und Trennung, „in Spiralen gehen“ und anerkennen, dass gerade auch im ‚Frühling‘, um beim Bild des oben beschriebenen Baums zu bleiben, also in den Momenten, in denen wir uns nach Wut und Trauer wieder einmal fröhlich und lebendig fühlen, – dass gerade da auch die Trauer noch weiter ihren Platz hat. Sozusagen ‚gestärkt‘ durch Momente der Freude kehren wir noch einmal zu ihr zurück. Lasst uns dann nicht erschrecken: „Ach du meine Güte, ich dachte, ich wäre über ihn oder sie längst ‚hinweg‘“. Vielmehr wünsche ich dir – und mir – die echte Akzeptanz des Lebens:

Trauer endet nicht mit dem Zustand, traurig zu sein. Und Freude beginnt nicht erst dort, wo alle Trauer überwunden ist.

Danke für dein Mitlesen und herzlich alles Gute,
Sunnybee

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Quiche und Freu(n)de: Nachbarschafts-experimente

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Eine Quiche, zwei Kuchen, 6 Erwachsene, 4 Kinder, Sonnenschein – was ist das?

Ein gelungenes Nachbarschafts-Kaffeetrinken!:-)

Vor ein paar Wochen habe ich hier im Blog darüber nachgedacht, was für eine Chance es sein kann, (freundlichen) Kontakt zu den eigenen Nachbarn zu pflegen. Ich hatte auch überlegt, was vor allem Großstädter davon abhält, ihre Nachbarn überhaupt kennen lernen zu wollen.

Theorie und Praxis

Am 25. Mai diesen Jahres, am offiziellen ‚Tag der Nachbarschaft‘, wollte ich meine Vorstellungen von guter Nachbarschaft ein Stück weit realisieren… etwa zehn Tage davor hängte ich einen Zettel in den Flur des Mehrfamilienhauses, in dem ich mit meinem Sohn wohne:

„Liebe Nachbarinnen und Nachbarn! Am 25. Mai ist europaweiter „Tag der Nachbarschaft“. Ich möchte an diesem Tag in unserem Hinterhof gerne ein kleines „Nachbarschaftsfest“ organisieren. Wer hat Lust mitzumachen? Ich selbst werde wohl einen Kuchen backen und wer mag, bekommt von mir einen frischen (Milch-) Kaffee zubereitet!;-) Je nach Wetter können wir auch das Schwimmbecken aufstellen, so dass unsere Kinder aus dem Haus darin planschen können!“

Angegeben waren Ort und Zeit des geplanten Fests und einige Zeilen Platz mit der Bitte, einzutragen, ob meine Nachbarn kommen und was sie (kulinarisch) beitragen konnten.

Schweigen im Mehrfamilienhaus

Tja, und was passierte? Über eine Woche lang NICHTS!… Oder doch: die Nachbarn, die ich noch am besten kannte, sagten ab, da sie in Urlaub waren. Ansonsten Schweigen von Parterre bis Dachgeschoss… Keine Zusage und auch keinerlei Reaktion, dass der Aushang überhaupt gelesen worden war. Was sollte ich davon halten? Ich muss es wohl meinen Erwartungen zuschreiben, aber ich war nicht nur enttäuscht, ich nahm die Stille persönlich. Hatte ich doch (für mich mutig) diesen ersten Schritt gemacht und jetzt hielt es keiner für nötig, darauf zu reagieren, geschweige denn, sich dafür ähnlich wie ich zu begeistern?

Nachbarn sind keine Freunde

Ich erzählte einer Freundin, die ich schon lange kenne, von meiner Enttäuschung – und wurde noch einmal enttäuscht. Denn sie fand das Verhalten meiner Nachbarn ganz normal. Sie hätte auf einen solchen Aushang auch nicht reagiert, denn Nachbarn seien nun einmal keine Freunde. Also müsse es keiner persönlich nehmen, wenn man auf ein näheres Kennenlernen keine Lust habe. Sich nicht zu melden sei Antwort genug. Sie hätte auch keine Lust, mit ihren Nachbarn im Hof zu sitzen.

Nun ja, ich wollte mich mit diesem (scheinbaren?) Desinteresse nicht zufrieden geben. Wie es der Zufall wollte, begegnete ich im Verlauf der nächsten Tage gleich mehreren meiner Nachbarn im Flur. Ich fragte nach, ob sie kommen würden – und erntete zumindest höfliches Interesse…;-)

Gelungene Feier

Und doch war das kleine „Hoffest“, das letztlich zustande kam, ein voller Erfolg, wie ich finde: drei entspannte Stunden, Plausch über Musik, Blumen und Kinder bei leckerem Essen. Beste Freunde werden wir Nachbarn wohl nicht, dazu sind wir alle zu verschieden und haben unsere eigenen Leben. Aber einander als Nachbarn kennen zu lernen war offensichtlich nicht nur für mich richtig nett. Wer weiß, vielleicht verschönern wir den Innenhof noch weiter, mit neuer Farbe an den Wänden, Spielgeräten für die Kinder und ein paar Blumen? Meine Nachbarn zwei Etagen über mir haben schon erklärt, sie seien bereit mitzuhelfen. Am Abend des 25. Mais ging ich jedenfalls glücklich ins Bett. Und der nächste Schritt auf meine „fremden“ Nachbarn zu wird mir schon leichter fallen!

Ein Sprichwort sagt: „Niemand weiß, was er kann, bevor er’s versucht.“ Ein zweites: „Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende.

An diesem Abend war das für mich genau so.

 

 

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Schnee im Juli. Vom Umgang mit Erwartungen

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„Morgen schneit’s!“

Äußert diesen Satz jemand im Januar, bei angekündigter Schlechtwetterfront, nickst du vermutlich und sagst etwas in der Art: „Ja, das kann gut sein.“ Auch Anfang April macht der Satz unter Umständen noch Sinn. Mitte Juli würdest du jedoch, zumindest in Mitteleuropa, wohl eher den Kopf schütteln und etwas in der Art äußern wie: „Das ist doch eher nicht zu erwarten!“

Unser Leben ist bestimmt von Erwartungen. Wir überlegen oft schon beim Aufstehen, wie der Tag wohl wird, was unser Chef heute für eine Laune haben wird, ob die Kollegin, mit der wir unser Projekt planen, gut vorbereitet sein wird, ob wir nachmittags beim Joggen den netten jungen Mann treffen, der immer zur selben Zeit wie wir seine Runden zu drehen scheint. Das Gefühl, das bei diesen Gedanken in uns aufsteigt, gibt uns einen Hinweis, welche Erwartungen wir in Bezug auf das Kommende haben. Magengrummeln beim Gedanken an den Chef: „Der ist ohnehin immer so cholerisch, hoffentlich macht er mich nicht zur Schnecke, weil ich den Abgabetermin verschieben muss.“ Vorfreude beim Gedanken an den Sport am Nachmittag: „Vielleicht ergibt sich ja ein netter Plausch mit dem Jogger, ein gemeinsames Interesse scheinen wir ja bereits zu haben.“

25 Zahnpasta-Sorten

Erwartungen erleichtern uns das Leben. Das ELM-Modell (Elaboration-Likelyhood-Modell) in der Sozialpsychologie legt nahe, dass wir, besonders unter Zeitdruck, Entscheidungen oft aufgrund von Erwartungen treffen, die uns im Moment der Entscheidung gar nicht bewusst werden. 25 Zahnpastasorten im Regal des Drogeriemarkts: ich nehme die, von der ich erwarte, dass sie mir für den besten Preis die beste Leistung bietet. Letztlich wird es Tube XY. Warum gerade die? Meine Erfahrung/ meine beste Freundin/ die Werbung hat eine Erwartung (sic!) in mich gepflanzt, die ich im Moment der Entscheidung gar nicht hinterfrage. Und das ist auch gut so – bis zu einem gewissen Grad. Denn würde ich jede Entscheidung von A bis Z „elaborieren“, d.h., alle Gründe dafür und dagegen abwägen, stünde ich morgen noch vor dem Drogeriemarktregal.

Andererseits können mich Erwartungen natürlich auch gründlich irreführen. Eher harmlos ist es, wenn ich statt Frühlingswetter winterliche Temperaturen erwartet habe und mich in Daunenjacke und Thermounterwäsche zwischen T-Shirt-Trägern wiederfinde (ist mir dieses Jahr beim Frühlingsanfang mal passiert!…;-)). Schon weniger harmlos ist es, wenn ich mich auf meine Babysitterin verlassen habe und sie nicht wie vereinbart mein Kind aus der Kita abholt (ist mir auch schon einmal passiert und hat mich einige Nerven gekostet…).

Schnee im Juli

Was aber, wenn meine Erwartungen sich gar nicht decken mit dem, was dann passiert? Und hierbei meine ich nicht aufgrund unvorhersehbarer Ereignisse (wie das eine Mal bei meiner Babysitterin, was ich zu ihrer Ehrenrettung sagen kann!;-)), sondern, weil sich in meinem Kopf, aus welchen Gründen auch immer, Erwartungen festgesetzt haben, die von der Wirklichkeit schlicht „ad absurdum“ geführt werden.

Auch hierzu ein Beispiel aus meiner nahen Vergangenheit: nach mehreren Wochen friedlichen Umgangs mit meinem Expartner und Vater unseres gemeinsamen Sohnes hatte ich mich darauf eingelassen, mich bei einer Übergabe (unser Sohn schlief gerade) noch einen Moment mit meinem Exfreund zusammenzusetzen. Wir waren beide ziemlich erschöpft (er gesundheitlich angeschlagen, ich k.o. vom Tag), und – kurz gesagt: das Gespräch, das friedlich begann, endete aus absurdesten Gründen (die ich hier nicht näher erläutern mag) in einem heftigen Wortgefecht, das unser Sohn zum Glück vollständig verschlief…

Ich aber schlich von der Übergabe komplett geknickt nach Hause, wütend und traurig und einigermaßen fassungslos, wie wenig freundlich oder gar „freundschaftlich“ dieses Gespräch verlaufenen war. Denn: JA, das war meine Erwartung gewesen. Und JA, die hatte sich – tata! – wirklich nicht erfüllt…

Leben ohne Erwartungen?

Also alle Erwartungen fahren lassen? Buddha-like den Moment annehmen, was immer da kommen mag? Jetzt. Und jetzt. Und jetzt. Ehrlich gesagt: schön wär’s! Wir ticken ja nunmal so, dass wir versuchen, vorauszusehen, was das Leben mit sich bringen wird. Und das ist in vielen Fällen (s.o.) ja durchaus sinnvoll. Erwartungen sind gut: sie lassen uns nicht völlig unvorbereitet durch’s Leben stolpern.

Aber wie so oft liegt meiner Meinung nach die Wahrheit irgendwo dazwischen: Alle Erwartungen sein zu lassen ist einerseits kaum möglich; andererseits beschränken uns zu festgefahrene Erwartungen und kosten uns Lebendigkeit. Aber gerade, wenn wir wissen: hier ist unsicheres, potentiell konfliktbehaftetes Terrain (wie z.B. die Übergaben unseres Sohnes zwischen meinem Expartner und mir, wenn wir beide müde und erschöpft sind), – dann schadet eins sicher nicht: eine gewisse optimistische Vorsicht. Ich erwarte das Beste, aber schütze mich, falls das Beste eben nicht eintritt. Damit ich, um nochmal auf die Wettermetaphorik zurückzukommen, eben nicht Sonnenschein erwarte – und dann schneit’s im Juli!…;-)

PS. Für alle, die es gern konkreter hätten, hier ein paar Tipps, wie Kindsübergaben nach der Trennung friedlich verlaufen können. Weitere Ideen willkommen! Garantie für’s Gelingen wird allerdings nicht übernommen…;-)