Ich weiß jetzt: in deutschen Bahnen zu reisen bedeutet ein Schweigegelübte abzulegen. Jedenfalls, wenn die Fahrt, wie bei mir vor kurzem, vor acht Uhr morgens beginnt.
Kein Wort zuviel
Intercity-Großraumabteil, der Zug ist nur mäßig voll, so dass alle Reisenden, soweit möglich, einen der Zweiersitze allein besetzen. Ich gebe zu, auch ich genieße den Raum für mich und hoffe, noch recht müde, dass sich beim nächsten Halt kein Mitreisender neben mich setzen möge. Dennoch beobachte ich mit stiller Verwunderung, was bei der nächsten Station geschieht: Mehrere Passagiere steigen zu und sehen sich nach Sitzplätzen um. Auf dem Zweiersitz neben mir auf der anderen Seite des Ganges sitzt am Fenster ein junger Mann. Er trägt eine Sonnenbrille, seine Körpersprache signalisiert: bitte nicht stören. Eine große, elegant gekleidete Frau Anfang 40, die gerade zugestiegen ist, stellt, ohne ein Wort an ihn zu richten, ihre Tasche auf den Platz neben ihn, hebt ihren Koffer ins Gepäckfach und setzt sich. Schweigend sitzen die beiden danach etwa eine Stunde lang nebeneinander, bis der Mann aussteigen muss. Er steht auf, nickt Richtung Tür. Die Frau erhebt sich, lässt ihn an ihrem Platz vorbei, ohne ein Wort oder Lächeln. Der Mann geht, ebenfalls wort- und grußlos, an ihr vorbei zur Tür. Ende der Szene.
Nicht weiter bemerkenswert? Ich komme mir einen Moment lang wie die reinste Labertasche vor: „Guten Tag, ist hier noch frei? Ja? – Danke“ – „Auf Wiedersehen. Gute Reise!“ So hätte ich wohl reagiert. Geht ja weit knapper, wie ich nun gesehen habe… Warum lebe ich meinem Sohn überhaupt die Begrüßung und Verabschiedung beim Bäcker, im Laden um die Ecke, in Situationen wie dieser in der Bahn vor? Warum sprechen, wenn man wort- und grußlos offensichtlich so effizient sein Ziel erreicht?
Form statt Funktion
Ja, warum eigentlich? Vielleicht, weil das Leben seine Qualität auch dadurch erhält, dass nicht nur die Funktionalität einer Handlung im Vordergrund steht? Dadurch, dass man seine Freundlichkeit auf die Menschen auch außerhalb des unmittelbaren Freundeskreises ausdehnt, auch einfach mal so nett ist? Ohne etwas zu wollen, ohne, dass es „nötig“ ist…
Als Kontrapunkt hier eine kleine Szene, die mir vor wenigen Tagen widerfahren ist: Ich bin mit meinem Rad unterwegs. Auf einmal – klack – springt meine Kette ab. Kein Drama, ich mache mich daran, sie wieder aufzuziehen, was auch gelingt, allerdings sind meine Hände danach ordentlich verschmiert mit Kettenfett. Ich versuche gerade, sie mit einem Taschentuch zu reinigen, als ich eine Stimme über mir höre: „Wollen Sie sich kurz die Hände waschen?“ Ein Mann, Ende 40, hat von seinem Balkon aus offensichtlich meine Bemühungen beobachtet und sieht mich freundlich lächelnd an. Ich überlege kurz: verschmierte Finger sind kein Drama, sie säubern zu können, erscheint mir jedoch angenehm. Das Angebot ist ein bisschen verrückt, verblüffend, nett. Der Mann wirkt völlig normal und wirklich nur hilfsbereit – kurz gesagt, ich nehme sein Angebot an, gehe mit ihm hoch in seine Wohnung, schrubbe mir in seinem Bad die Kettenschmiere von den Fingern, danke herzlich und gehe beschwingt zurück zu meinem Rad. Ende der Interaktion.
Wem vertraue ich?
Eine Freundin, der ich von der kurzen Szene erzähle, reagiert entsetzt: „Du bist mit dem einfach in seine Wohnung gegangen? Was da nicht alles hätte passieren können!…“ Ich vertiefe das Thema nicht weiter, denke nur, sie hat Recht – und doch nicht. Denn ich wäre sicher nicht auf das Angebot jedes Fremden eingegangen. Auch meinem Sohn würde ich verbieten, auf eine solche Offerte einzugehen. Aber mir ist klar gewesen, dass es in dieser Situation tatsächlich nur um Freundlichkeit, spontane Hilfsbereitschaft und eine Spur Verrücktheit ging.
Ehrlich gesagt, bilde ich mir ein, diesbezüglich Menschen ganz gut einschätzen zu können – vielleicht, weil ich auch sonst öfter mal mit ihnen ins Gespräch komme – im Café, im Laden um die Ecke, in der Bahn… Vertrauen entsteht meiner Meinung nach über „vertraut sein“: mit sich selbst, mit anderen, mit der ganzen kontrastreichen, wunderbaren Welt da draußen. Das macht das Leben netter, nimmt Angst und Abwehr vor dem „Fremden“, der neben mir steht – und tut gut. Also Augen auf. Ein Lächeln, eine Frage. Den Blick erwidern und ein paar nette Worte. Das gebe ich meinem Sohn sicher mit auf den Weg. Einfach so.
Herzlich, Sunnybee