Kunst, Persönliches

Die irrste Katze der Welt. Wie alles begann.

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Was ist ein kleiner Elefant, der sich für eine Katze hält? Oder eine Katze, die zufällig einem Elefanten zum Verwechseln ähnlich sieht?

In der Menschenwelt würde man so etwas dissociative identity disorder nennen. In Gilles Bachelets absurd komischem Kinderbuch ist dieser Elefant die „irrste Katze der Welt“…

Ganz nach Katzenmanier schmust er und döst vor sich hin, versucht den Goldfisch aus seinem Bassin zu angeln und zerfetzt sein Kuscheltier – um sich am Ende in die Gummikarotte des Nachbarhundes zu verlieben…

Funk statt Fuji

Die Zeichnungen erinnern mit ihren zarten Linien und der harmonischen Farbgebung an japanische Landschaftsmalerei. Aber statt des Fujis geht hier der Funk ab – seit das Elefantatzentier das Zuhause des Künstlers in Beschlag genommen hat, ist dort nichts mehr, wie es einmal war…

Ein herrlich absurder Spaß für große Leserinnen und Leser und ihre kleinen Zuhörer und Zuhörerinnen! 🙂

Leseprobe: 

„Was gibt es Rührenderes als einen Wurf Kätzchen, die ihre kleinen Rüssel auf der Suche nach der Muttermilch hin und her bewegen? Wenn Ihnen bei einem solchen Anblick das Herz aufgeht, lassen Sie sich hier erzählen, wie eines von ihnen, komme was wolle, meine liebste, dickste und irrste Katze der Welt wurde.“

Gilles Bachelet: Die irrste Katze der Welt. Wie alles begann. Gerstenberg Verlag. (Ab 3)

Kunst, Persönliches

Der Kuss der Spinnenfrau

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Zwei Häftlinge, die die argentinische Justiz der 1970er Jahre in einer Zelle zusammengebracht hat: der wegen regimekritischer Aktivitäten inhaftierte Valentin Arregui und Molina, der wegen homosexueller Handlungen zu acht Jahren Haft verurteilt wurde.

In ihrer Einsamkeit und um der Monotonie der Haft ein Stück weit zu entgehen, beginnt Molina, seinem Zellengenossen detailliert alte Hollywoodfilme nachzuerzählen. Die Handlung der Filme wird Teil eines Dialogs, der sich durch den gesamten Roman zieht. Ihre Worte bleiben unkommentiert durch einen Erzähler, wirken, nur mit Spiegelstrichen voneinander getrennt, selbst wie die Mitschrift von Filmszenen, an denen der Autor uns Leserinnen und Leser als stumme „Voyeure“ teilhaben lässt.

Vorsichtige Annäherung

In der Intimität ihrer Zelle kommen sich die zwei ungleichen Häftlinge näher. Arregui, geschwächt von dem vergifteten Essen, das die Gefängnisleitung ihm als Teil ihrer Zermürbungstaktik zukommen lässt, beginnt, Vertrauen zu fassen zu Molina, der ihn mit großer Menschlichkeit und Hingabe pflegt und schließlich seine Vorräte mit ihm teilt, um ihn vor weiteren Vergiftungserscheinungen zu bewahren.

Molina wiederum scheint Arregui zunächst zu „dienen“, gemäß der vom argentinischen ‚Machismo‘ geprägten ‚weiblichen’ Rolle, die er als femininer homosexueller Mann wie selbstverständlich einnimmt. Allmählich wandelt sich das Verhältnis der beiden Männer jedoch. Echte Zuneigung einerseits und eine von Respekt geprägte Dankbarkeit beginnt die Männer zu verbinden und ermöglicht beiden letztlich eine Begegnung auf Augenhöhe, eine intime Nähe, an der wir Leserinnen und Leser vor allem durch das Unausgesprochene (im Textfluss durch |…|markierte Pausen) teilhaben.

Eine Lektion über das Leben

Ich finde einerseits die verschiedenen „Ebenen“ des Romans faszinierend sowie die unkonventionelle, ‚roh‘ und zugleich intim wirkende Erzählweise im reinen Dialog. Andererseits berührt mich ganz direkt der Schmerz – und die Zärtlichkeit -, die im Verlauf des Romans zwischen den Häftlingen zu spüren ist und meist durch das Unausgesprochene, durch Gesten und Halbsätze, deutlich wird. Die wortreiche Nacherzählung der alten Hollywoodfilme begleitet die Annäherung der beiden wie eine Hintergrundmelodie. Die Handlung der Filme hat mit dem Geschehen in der Zelle auf den ersten Blick nichts zu tun. Allerdings verschafft Molinas Nacherzählung den beiden Männern überhaupt erst eine Ebene des Austauschs und die von ihm gewählten Filme sind allesamt tragisch und komplex – sie spiegeln damit in gewisser Weise die Situation, in der Arregui und Molina sich befinden.

Ein „Kammerspiel“ der besonderen Art und eine berührende Antwort auf die Frage „Wofür lohnt es sich eigentlich, zu leben, mit echter Hingabe da zu sein?“ – –

Leseprobe:

„In gewisser Weise sind wir vollständig frei, so gegeneinander zu handeln, wie wir wollen. Drück ich mich verständlich aus? Es ist, wie wenn wir auf einer einsamen Insel wären. Einer Insel, auf der wir womöglich jahrelang allein sind. Denn außerhalb, natürlich, da stehen unsere Unterdrücker, aber hier innen nicht. Hier unterdrückt niemand. Das einzig Verwirrende für meinen müden oder konditionierten oder deformierten Kopf ist, dass jemand mich gut behandelt, ohne irgendetwas dafür zu verlangen.
– Schön, das weiß ich nicht…
– Was heißt, du weißt es nicht?
– Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. […] Denk dir bitte nicht irgendwas Ausgefallenes, aber wenn ich dich gut behandle… dann tue ich es, weil ich deine Freundschaft gewinnen will, und weil ich möchte, warum soll ich es nicht sagen?… dass du mich gern hast. Genauso wie ich zu meiner Mama gut bin, weil ich sie lieb habe, weil sie gut ist und weil ich möchte, dass sie mich lieb hat… Und du bist auch ein guter, selbstloser Mensch, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat für ein großes Ideal… Schau jetzt nicht weg, schämst du dich?
– Ja, ein wenig… Aber ich schau dir ins Gesicht, siehst du?
– Und deshalb… respektier ich dich und hab dich gern und möchte, dass du mich gern hast…“

Manuel Puig: „Der Kuss der Spinnenfrau“. Suhrkamp, 1998 (erste Auflage 1976).

 

Gesellschaft, Hochsensibilität, Persönliches

Kater Mau Tse-Tung. Oder: „Wenn Sie lachen, haben Sie ein wunderschönes Gesicht!“

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Mittagspause: 50 Minuten Zeit zwischen meiner Arbeit und dem Abholen meines Sohnes aus der Kita. Ich beschließe, mir in einer Bäckerei auf dem Weg ein belegtes Brötchen und eine Tasse Kaffee zu holen.

Haben Sie eine Katze?

An einen der Stehtische gelehnt, trinke ich gerade den ersten Schluck, als zwei Herren das Ladenlokal betreten: der eine schätzungsweise Anfang 60, der andere um die 70, schlohweißer Vollbart, Typ emeritierter Privatdozent. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie die zwei umständlich parlierend ihre Bestellung aufgeben. Schließlich stehen sie am Stehtisch neben mir.
„Haben Sie eine Katze?“, beginnt der Ältere der beiden unverzüglich das Gespräch. Etwas verblüfft verneine ich. Das bringt den Herrn jedoch nicht aus dem Konzept: „Aber Sie kennen doch sicher jemanden, der eine Katze hat, oder?“, fährt er fort, um unvermittelt das Thema zu wechseln: „Lesen Sie Bücher? Also, auf Papier?“ Diesmal nicke ich. „Wunderbar!“, der Herr strahlt: „Dann hätte ich genau das Richtige für Sie – sehen Sie, eine Leseprobe…“ Er schiebt mir ein Blatt Papier zu. Offensichtlich eine Rezension, zuoberst der Titel: „Kater Mau Tse-Tung. Wie man einen Menschen hat oder: Über die artgerechte Haltung von Zweibeinern“.

Kater Mau und sein Sekretär

Abwartend sehe ich mein Gegenüber an. „Ich bin nur der Sekretär“, fährt dieser fort. „Sie verstehen, mein Kater Mau… großes Werk der Katzenliteratur… bescheidene Mitwirkung meinerseits… Gedanken des Verfassers per Telepathie übertragen und von mir niedergeschrieben…“ Meine Verblüffung ist mir sicher anzusehen. Zugleich beginnt mich das Gespräch zu amüsieren. Die Herren wirken eigentlich ganz „normal“. Feine Ironie blitzt aus den Augen des Weißbärtigen, während er mir die Vorzüge seines Werks (pardon: das des Katers) beschreibt. Er möchte es mir tatsächlich zum Kauf empfehlen.
„Aha, Mau/Mao Tse-Tung, eindeutige kulturelle Referenzen! -“, steige ich, mit Anspielung auf den Titel, in das Gespräch ein. „Aber gewiss!“, der Herr nickt eifrig: „Sehen Sie, hier -“ Er zeigt auf den ersten Absatz der Rezension. Ich überfliege ihn:

„Dieses sensationelle Sachbuch über die kaum bekannten Hintergründe einer nachhaltigen Menschenerziehung durch das Volk der Hauskatzen sollte in keiner Bibliothek fehlen. Lüftet es doch den Schleier über Geheimnisse und Verfahren, mit deren Hilfe es den Samtpfoten seit Jahrtausenden gelingt, den hoffnungslos in seinen defekten „höheren Ideen“ verlorenen Zweifuß vor dem Allerschlimmsten zu bewahren und ihn sanft aber gnadenlos seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen: der Hege und Pflege, der Bewunderung und Verehrung, der Verwöhnung und Verschmusung der Katzentiere – so, wie es sich gehört!“

Ich muss ihm zustimmen, dass die Welt auf ein solches Werk gewartet hat!

Gesang und Komplimente

Nun ja, das Gespräch geht in dieser Form noch eine Weile weiter, der etwa 60-jährige Herr mischt sich zwischenzeitlich als „Sidekick“ ein, bzw. geht mäßigend dazwischen, wenn seinen Begleiter die Begeisterung zu allzu umfangreichen Monologen hinzureißen droht. Auch eine kurze Gesangseinlage der extra von „Kater Mau“ vertonten und im Buch enthaltenen Kompositionen wird mir geboten… Alles in allem eine wunderbar absurde Situation zwischen Quarkstrudeln und Puddingteilchen!

Nach etwa zehn Minuten habe ich mein belegtes Brötchen verzehrt und verabschiede mich, nicht ohne den beiden viel Erfolg bei der Verbreitung ihres Werks zu wünschen. „Sie haben mich zum Lachen gebracht, danke für das Gespräch!“, rufe ich ihnen zu. Als ich bereits dabei bin, mein Fahrrad neben dem Eingang aufzuschließen, kommt mir der etwa 60-jährige Herr noch hinterher: „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wenn Sie lachen, haben Sie ein wunderschönes Gesicht!“

Ich muss noch einmal lachen, bedanke mich herzlich und fahre breit grinsend und kopfschüttelnd davon.

Was will mir das sagen?

Und wäre mir das alles nicht genau so heute, am 13. Juni 2018, passiert, ich würde es wohl nicht glauben. So bin ich froh, dass ich zu Beginn des Gesprächs nicht einfach gebrummt habe: „Kein Interesse“. Denn hätte ich sonst solch eine nette, absurde, herzwärmende Begegnung mit Kater Mau Tse-Tung und seinen Fürsprechern gehabt?

Ein Lob auf das Leben, das sich oft dort am lebendigsten zeigt, wo man es am wenigsten erwartet!

Herzliche Grüße, Sunnybee

Gesellschaft, Kunst

Wo Mut die Seele trägt

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Wer sind die afghanischen Frauen, die die Taliban unter den Tschador gezwungen haben? Nahid Shahalimi, Autorin dieses Buches, ist selbst Afghanin. Mit 12 Jahren musste sie aus ihrem Heimatland flüchten und lebt nach mehreren Jahren in Kanada nun in Deutschland. Als erwachsene Frau kehrt sie in das Land ihrer Kindheit zurück, bereist es fast drei Jahre lang und bringt die „Fundstücke“ mit, die in diesem Buch versammelt sind. 

20 mit zahlreichen Fotografien versehene Portraits starker afghanischer Frauen zwischen 16 und Ende 60 finden sich hier: Ein Mädchen, das sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtlingskindern einsetzt, eine Psychiaterin, die sich in einer Klinik in Kabul der Seelen psychisch- und suchtkranker afghanischer Frauen annimmt und eine der wenigen aktiven Pilotinnen Afghanistans sind nur drei davon. Beeindruckende Frauen, die das (westliche) Klischee der „unterdrückten afghanischen Frau“ erschüttern und doch täglich mit den Folgen der Kriege in ihrem Land und der Kontrolle der fundamentalistisch-religiösen Machthaber konfrontiert sind.

Ein Beleg, dass Stärke sich oft dort zeigt, wo sie gerade nicht gefördert wird. Einziger Wermutstropfen: manchmal hätte ich mir als Leserin gewünscht, noch mehr von den einzelnen Frauen, ihren Beweggründen und biografischen Stationen zu erfahren. Obwohl die Portaits mehrere Seiten lang sind, öffnen sie teilweise erst die Tür zu der Persönlichkeit der Frauen. Doch auch so ist dieses Buch, das Shahalimi durch ihren eigenen Mut und ihre Wissbegier möglich machte, unbedingt lesenswert!

Leseprobe: 

„Die internationalen Medien vermitteln ein falsches Bild der afghanischen Frauen. Wir sind nicht zu Hause angebunden. Wir engagieren uns aktiv in der Gesellschaft. Ja, es gibt Gewalt und Unterdrückung von Frauen, aber es gibt auch großartige Frauen, die mutig voranschreiten und engagierte Mitglieder der afghanischen Gesellschaft sind.“ (Zarifa Adiba, afghanische Musikerin)

Nahid Shahalimi: Wo Mut die Seele trägt. Wir Frauen in Afghanistan. Elisabeth Sandmann-Verlag.

Kunst, Persönliches

Der fliegende Hut

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(C) Der fliegende Hut

Ein Windstoß weht den fliegenden Hut vom Kopf eines kleinen Jungen – von wo aus er über die nächsten Seiten von Kopf zu Kopf wandert, durch alle Jahreszeiten hindurch, in Schnee, Sonnenschein und Regen. Da apportiert ihn ein Hund zu seinem Frauchen, dem er von einem Affen im Zoo geklaut wird, dessen Pfleger den Hut dann an sich nimmt. Der wiederum fährt mit Hut per Bahn nach Hause, kommt dort aber ohne Kopfbedeckung an, denn… am Ende findet der fliegende Hut zu seinem Besitzer zurück – aber bis dahin hat er ein lange, bunte Reise hinter sich gebracht!

Klare, farbenfroh gemalte Bilder, keinerlei Text –  und dennoch eine wunderbar phantasievolle, erzählbare Geschichte. Mit diesem Buch kommen Mama oder Papa, Oma oder Opa und die kleinen Leser/innen tatsächlich ins Gespräch: fragen nach, schauen hin, wundern sich und erklären. Ein „Bilderbuch“ im eigentlichen Sinn, meiner Meinung nach nicht umsonst mit dem Hans-Christian-Andersen-Kinderbuchpreis ausgezeichnet.

Leseprobe: 

gibt’s hier nicht, da ohne Text!;-)

Rotraut Susanne Berner: Der fliegende Hut. Aladin-Verlag. (Ab 2)