Deutschland in rund 50 Jahren: Wie sieht das Leben in Familien aus? Wie teilen Paare die Arbeit zwischen Kindern und Beruf? Und gibt es vielleicht ganz neue Modelle, wie Menschen füreinander Fürsorge übernehmen? Vor etwa einem Jahr habe ich hier im Blog einen Text veröffentlicht: ein (fiktives) Gespräch mit meiner Enkelin im Jahr 2067. Heute, ein Jahr später, ist der Beitrag aktueller denn je. Lest hier!
Ein Gespräch mit meiner noch ungeborenen Enkelin
2067: Ich sitze mit meiner Enkelin, der Tochter meines Sohnes, im Garten und unterhalte mich darüber, was Familie Ende des 21. Jahrhunderts bedeutet – und wie Familien rund fünfzig Jahre davor, im Jahr 2020, in Deutschland gelebt haben.
Enkelin: Oma, erzähl doch mal, wie war das, 2020, als Papa noch ganz klein war? Du warst ja Mama und zugleich berufstätig: wie sah dein Alltag damals aus?
Ich: Der größte Unterschied im Vergleich zu heute war wohl, dass wir so ortsgebunden waren. Die Digitalisierung steckte noch in den Kinderschuhen. Ich war als Lehrerin berufstätig seit dein Vater ein knappes Jahr alt war und musste eigentlich jeden Tag bei meiner Arbeitsstelle präsent sein. E-Learning oder Online-Tutorials, wie sie für dich als Schülerin normal waren, gab es damals nur in Ausnahmefällen. Also war Kinderbetreuung während der außerhäuslichen Arbeitszeit auch für mich als Pädagogin ein großes Thema, obwohl der Lehrerberuf als besonders familienfreundlich galt.
Familienarbeit ist 2070 Mütter- UND Vätersache
Der zweite gravierende Unterschied zu heute war, dass das Umdenken, Kinder nicht als „Müttersache“, sondern tatsächlich als Angelegenheit beider Elternteile zu sehen, gerade erst begonnen hatte. 2007 wurde vom damaligen Bundesfamilienministerium das sogenannte „Elterngeld“ eingeführt sowie die Möglichkeit, sowohl als Mutter als auch als Vater während einer bis zu 14-monatigen „Elternzeit“ beruflich zu pausieren oder kürzer zu treten und sich für die Familie zu engagieren. De facto nahm um 2020 im Schnitt zwar etwa jeder dritte Vater Elternzeit, davon pausierten aber noch immer knapp 60 Prozent beruflich gerade einmal für zwei Monate. Viele Paare kippten nach der Geburt des ersten Kindes zurück in das klassische Rollenmuster: Mann in Vollzeit als Familienernährer, Frau in Teilzeit als Zuverdienerin (vgl. „Väterreport“ des Bundesfamilienministeriums, 2018). Alleinstehende Mütter mussten natürlich aus finanziellen Gründen dennoch oft in Vollzeit arbeiten, was den Druck, der auf ihnen lastete, massiv erhöhte.
Enkelin: Es gab also noch keine bedingungslose Grundsicherung für Alleinerziehende oder ein Fürsorgegehalt für junge Familien wie heute?
Ich: Nein, das Umdenken fand offensichtlich erst statt, als auch den verantwortlichen Politikern und Politikerinnen klar wurde, dass die Elternpolitik um 2020 in keiner Weise dazu führte, dass gut ausgebildete Frauen mehr Kinder bekamen. Und wenn sie tatsächlich mehr als ein Kind bekamen und in einer intakten Beziehung lebten, blieben sie häufig unter ihren beruflichen Möglichkeiten oder stiegen nach einiger Zeit ganz aus dem Berufsleben aus. Eine wirklich absurde Verschwendung von Ressourcen.
Enkelin: Du meinst, früher war nicht automatisch klar, dass Väter und Mütter gleichwertig für das Familieneinkommen und die Fürsorgearbeit zuhause zuständig sind?
Ich: Man nannte das damals „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, aber de facto war das Berufsleben in vielen Fällen eben nur schwer mit den „privaten“ Aufgaben als Eltern zu verbinden. Es war längst noch nicht so klar wie heute, dass Eltern privat UND beruflich Spielräume brauchen, um nicht in beiden Bereichen überlastet zu sein und auf lange Sicht „auszubrennen“.
Enkelin: Wie sah denn dein Alltag mit Kind aus?
Ich: Gut durchgeplant. Als dein Vater sehr klein war, kam es mir oft vor, als verflögen die Wochen mit einem Fingerschnipsen. Dabei teilten dein Großvater und ich uns die Fürsorgearbeit als Eltern zu fast gleichen Teilen. Wenn ich das damit verglich, wie wenig sich manche Väter aus meinem Bekanntenkreis um ihre Kinder kümmerten, es z.B. ganz normal fanden, während der Woche erst gg. 19 oder 20 Uhr zu ihren Familien zu stoßen und ihre Partnerinnen, die meist in Teilzeit berufstätig waren, somit kaum bei der Organisation des Alltags zu unterstützen, kam ich mir mit unserem Modell fast privilegiert vor.
Enkelin: Trotzdem wurdet ihr steuerrechtlich wie kinderlose Singles behandelt.
Ich: Ja, die Rechtssprechung hinkte diesbezüglich der gesellschaftlichen Realität hinterher. Auch bezogen auf den Umgang nach einer Trennung sahen es viele Familienrichter noch als selbstverständlich an, dass das Kind „zur Mutter gehörte“ und tendenziell deutlich mehr Zeit bei ihr verbringen sollte. Einigten sich Paare darauf, dass der Vater fast zu gleichen Teilen (also z.B. 40% der Zeit) für das gemeinsame Kind zuständig sein sollte, war er juristisch dennoch zu Unterhalt verpflichtet. Das führte bei zerstrittenen Paaren zum Teil dazu, dass Väter auf ein Umgangsrecht von 50% pochten, weniger, weil ihnen die Zeit mit ihrem Kind so wichtig war, sondern weil der Gesetzgeber sie dann nicht zu vollem Unterhalt verpflichten konnte.
Wahlverwandtschaften als Teil der Fürsorge-Arbeit
Enkelin: Heute können ja sogar Menschen, die gar nicht miteinander verwandt sind, notariell ihre Bereitschaft erklären, füreinander als „Familie“ einzustehen und auch finanziell füreinander zu sorgen.
Ich: Ja, mit ihrem „Wahlfamilien-Programm“ hat die Bundesregierung 2050 zum Glück auf die Realität vieler Eltern und Kinder reagiert und soziale Elternschaft gegenüber der biologischen massiv aufgewertet. Tatsächlich bin auch ich der Meinung, dass Familie dort ist, wo Kinder sind und nicht notwendigerweise nur dort, wo zwei Menschen als (verheiratetes) Paar ihre leiblichen Kinder aufziehen.
Enkelin: Kam dieser Slogan nicht aus den Reihen schwuler, lesbischer und bisexueller Eltern, den sogenannten „Regenbogenfamilien“?
Ich: Ursprünglich ja. Aber schließlich war auch den letzten Politikern klar, dass eine Gesellschaft wie die deutsche, in der immer weniger junge Menschen die finanzielle und praktische Fürsorge für immer mehr Alte übernehmen müssen, auf die Hilfe von Menschen angewiesen ist, die nicht im biologischen Sinn „Familie“ sind. Das „Wahlfamilien-Programm“ war der Weg, die Fürsorgearbeit gerade auch in der nicht-institutionalisieren Altenpflege aufzuwerten. Wo zuvor Pflegerinnen aus Polen oder Rumänien mit Dreimonatsvisum für die pflegebedürftigen Eltern junger Erwachsener sorgten – und das oft unter prekären Bedingungen – konnten jetzt offizielle „Wahlverwandtschaften“ eingegangen werden.
Enkelin: Ich weiß, dass die Oma meiner besten Freundin ihre Pflegerin aus Syrien „adoptiert“ hat. Die hat damit unbeschränktes Aufenthaltsrecht und kann sogar einen Teil ihres Vermögens erben, umgekehrt müsste sie finanziell aber auch für die Großmutter meiner Freundin einstehen, wenn diese nicht mehr für ihren Unterhalt aufkommen könnte.
Ich: Ist das denn überhaupt praktikabel? Viele eingewanderte Menschen verfügen doch über viel zu wenig Geld, um eine solche Bedingung zu erfüllen.
Enkelin: Daher haften nach dem „Wahlfamilienmodell“ weitere Familienmitglieder für sie. Die „Adoptierten“ müssen einen bestimmten Betrag zur Absicherung der „Adoptiveltern“ hinterlegen. Damit soll der Missbrauch des Modells zu rein finanziellen Zwecken verhindert werden. Andererseits übernehmen die Adoptierten auf diese Weise tatsächlich Verantwortung den „Adoptiveltern“ gegenüber, ähnlich, wie sie biologische Kinder ihren Eltern gegenüber haben. Das führt auch zu einer gestärkten Position der „Adoptivkinder“ und unterstützt ihre Integration.
Ich: Ich erinnere mich trotzdem, welche Aufregung dieser Vorstoß in der Familienpolitik vor allem in konservativen bis nationalistischen Kreisen erzeugt hat. Wieder einmal war von der „Auflösung der Kernfamilie“ die Rede, der Gesetzesentwurf war von starken, zum Teil klar ausländerfeindlichen, Ressentiments begleitet.
Enkelin: Der klassische „Backlash“. Aber wie sich gezeigt hat, war diese eigentlich nur auf Familien gemünzte Entscheidung auch ein außen- und wirtschaftspolitisches Signal, Deutschland endlich als Einwanderungsland anzuerkennen. Tendenzen, sich z.B. gegen Kriegsflüchtlinge abzuschotten, wie sie um 2020 klar erkennbar waren, wurde so radikal der Boden entzogen. Eingewanderte Frauen konnten als „Adoptivtöchter“ mit ihrem Gehalt einen bedeutenden Beitrag zum Familieneinkommen leisten, was nicht nur ihren Status innerhalb ihrer Ursprungskultur verbesserte, sondern sie auch zum wichtigen Bindeglied zwischen Zuwanderern und Deutschen machte. „Fürsorge zahlt sich aus!“ Ein Slogan, den man sich 2020 wohl noch nicht hätte vorstellen können, oder?
Ich: In der Tat: 2020 war die institutionalisierte, ebenso wie die private Fürsorgearbeit noch ein Randthema in der Politik. Viel zu oft erklärten sich gerade Frauen dazu bereit, diese verantwortungsvolle und gesellschaftlich relevante Aufgabe quasi im Verborgenen, für wenig oder gar keine Entlohnung, zu leisten. Gut, dass sich in diesem Bereich einiges getan hat! Was mich interessiert: wie möchtest du selbst einmal „Familie“ leben?
Familienleben im Jahr 2070
Enkelin: Ich bin jetzt Anfang 20 und möchte möglichst bald Kinder haben. Aber ich möchte sie nicht in einer klassischen Kleinfamilie aufwachsen lassen. Mit meinem Freund wohne ich jetzt ja schon in einer Haus-WG. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir auch mit Kindern dort wohnen bleiben. Ihr habt den Individualismus damals hochgehalten. Wir Jungen wollen wieder mehr Gemeinschaft. „Social Sharing“ nennen wir dieses Leben, in dem viele Einzelne sich für ein großes Ganzes einsetzen und letztlich auch davon profitieren.
Ich: Davon haben 2020 auch schon viele geträumt. Umgesetzt haben dieses Ideal aber nur sehr wenige.
Enkeln: Dazu sind ja wir jetzt da!
Schreib mir deine Meinung!
Wie sieht ein glückliches Familienleben für dich im Jahr 2020 aus? Was brauchen Familien deiner Meinung nach wirklich? Und wie stellst du dir Familienleben in weiteren 50 Jahren vor? Schreibe deine Meinung hier als Kommentar oder teile sie unter diesem Artikel auf meiner Facebook-Seite.
Blogparade „Was brauchen Familien wirklich?“
Der Text war übrigens in leicht veränderter Form mein Beitrag zu einer von mir initiierten „Blogparade“ im Sommer 2019, der Einladung an andere Bloggerinnen und Blogger, zu einem bestimmten Thema einen eigenen Artikel zu verfassen und diesen auf meinem Blog zu verlinken.
Die neun Antworten auf meine Frage: „Was brauchen Familien wirklich?“ sind überaus lesenswert. Ihr findet sie hier!
Herzlich, Sarah
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[Foto: Pixabay]