2018 veröffentlichte Michelle Obama ihre Autobiografie. „Becoming“, die Beschreibung ihres Werdens (und Wachsens), umfasst in der deutschen Hardcover-Ausgabe stolze 542 Seiten. Kein Geplauder aus dem politischen Nähkästchen, sondern die selbstbewussten und verblüffend offenen Reflexionen einer Frau, die klar ihren Weg geht und sich zugleich verbindlich für andere einzusetzen weiß. Und, nein: einfach ist es nicht, Mrs. Obama zu sein, Harvard-Absolventin, erfolgreiche Juristin und von 2009-2017 die Frau des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Ein Leben für die Freiheit: Hildegard Hamm-Brücher
Die zweite faszinierende Autobiografie, die ich zuletzt in Händen hatte, sind die Lebenserinnerungen der Politikerin Hildegard Hamm-Brücher. Seit Mitte der 1940er Jahre Mitglied der FDP, kehrte sie dieser 2002 den Rücken, acht Jahre, nachdem sie als Kandidatin der Freien Demokaten für das Amt des Bundespräsidenten angetreten und aufgrund machtpolitischen Kalküls von ihren eigenen Parteivorsitzenden dabei im Stich gelassen worden war. Ihr Thema: Freiheit im all ihren Facetten. Nach dem 2. Weltkrieg und der NS-Diktatur insbesondere die Freiheit, die noch junge und instabile deutsche Demokratie mitgestalten zu können, u.a. als Staatsekretärin im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft und als erste Staatsministerin Deutschlands im Auswärtigen Amt. Die Freiheit, als Frau den eigenen beruflichen und politischen Weg zu gehen, auch als Mutter zweier Kinder. Die Freiheit, eigenständig zu denken und den eigenen Standpunkt auch gegen Widerstände zu vertreten. Und schließlich die Freiheit, bei allem (politischen) Kampf sich selbst treu zu bleiben und sich keiner parteipolitischen Doktrin unterzuordnen. „Freiheit ist mehr als ein Wort“ heißt dementsprechend auch Hamm-Brüchers Lebensbilanz.
Michelle Obama: Verpflichtung und Eigensinn
Folgt Michelle Obamas (bisheriges) Leben einem ebenso klaren Grundton? Ihrer Autobiografie nach könnte es die Übernahme von Verantwortung sein – und das Wachsen an ihr. Als junge Frau richtet sich ihr Ehrgeiz auf eine bestmögliche berufliche Ausbildung. Und tatsächlich wird Obama relativ jung eine erfolgreiche und gut bezahlte Anwältin. Allerdings fühlt sie sich von ihrer Arbeit nicht wirklich erfüllt. Erst die Freundschaft mit ihrem späteren Ehemann Barack Obama und der frühe Tod einer engen Freundin bringt sie dazu, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Sie ändert ihr Berufsfeld, beginnt sich sozial zu engagieren und trifft ihre Entscheidungen, beruflich und privat, zunehmend selbstbestimmt. Zugleich geht sie dabei Verpflichtungen ein, die ihr Leben maßgeblich beeinflussen. Eine Stelle in der Stadtverwaltung Chicagos bringt sie mit der Politik und ihren konkreten Folgen für die Bevölkerung in Berührung, ihre Arbeit in der Verwaltung der University of Chicago einige Jahre später beinhaltet die Verantwortung für mehrere Dutzend Mitarbeiter und ihre Entscheidung für die Ehe mit einem jungen, politisch interessierten Anwalt namens Barack Obama lässt sie Jahre später zur „First Lady“ Amerikas werden. Auch hier ist sie eine lebenslange Verpflichtung eingegangen und stellt diese nicht in Frage, obwohl die politische Karriere ihres Mannes viel von ihr und den gemeinsamen Töchtern fordert.
Phasenweise stellt Michelle Obama sogar ihre eigene Karriere sowie ihre privaten Wünsche zurück, um ihren Mann während seines politischen Engagements zu unterstützen. Ihr „Werden“ ist dennoch nie die bloße Anpassung an äußere Gegebenheiten, sondern vielmehr die Fähigkeit, zunehmend klarer zu erkennen: Wer bin ich? Wofür will ich mein Leben einsetzen? Und welcher Verantwortung stelle ich mich dadurch?
Auch Hildegard Hamm-Brücher stellt sich diese Frage. Noch mehr interessiert sie jedoch, was aus der Demokratie wird, die sie durch ihr politisches Engagement über Jahre mitgestaltet hat: „Eine Demokratie ist nie vollendet, sie ist, wir erleben es, immer mal wieder gefährdet, und sie bedarf immer von neuem des Nachweises geistig-moralischer Glaubwürdigkeit“, so ihr klarsichtiges Fazit. Und dennoch zieht sie am Ende ihres Lebens eine grundsätzlich positive Bilanz: „Das Licht der Welt erblicken…, es jeden Tag neu erblicken, das ist ein himmlisches Geschenk, das mich zeitlebens mit Freude und Dankbarkeit erfüllt und in der Finsternis, die es auch gab, getröstet hat. […] Für beides – Freude und Trost – empfinde ich GRATIA, was beides heißt: Dank und Gnade.“
Zwei ganz unterschiedliche Lebenswege, zwei beeindruckende Frauen und ihre packende Biografie – unbedingt lesenswert!
Herzlich, Sarah
Michelle Obama: Becoming. Meine Geschichte. Goldmann, 2018.
Hildegard Hamm-Brücher: Freiheit ist mehr als ein Wort. Eine Lebensbilanz. Dtv, 1997.
[Foto: privat. Dieser Beitrag enthält unbezahlte Werbung für die genannten Bücher.]
Ich werde „Becoming“ jetzt doch mal lesen müssen.
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Ja, ich war erst auch zurückhaltend, wie bei allen „gehypten“ Büchern, aber ich wurde positiv überrascht!:-) Vor allem die Direktheit und Offenheit hat mir gut gefallen. Lg, Sarah
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