alleinerziehend, Familie, Politik

Fürsorgearbeit IST Arbeit. Unersetzlich. Systemrelevant. Unbezahlt.

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Freitag Morgen, 3.30 Uhr. Ich werde wach und kann nicht wieder einschlafen. Wie oft in den letzten Wochen. Ein klassisches Stress-Symptom. Morgens wache ich gerädert auf und bin – na ja – „bereit“ für einen weiteren 14-Stunden-Tag. Ich bin weder Managerin in einem Unternehmen noch Spitzenpolitikerin. Meine Arbeit ist ein Ehrenamt. 4 Jahre lang habe ich sie bisher neben meinem (bezahlten) Beruf unbezahlt ausgeübt. Ich bin Mutter eines vierjährigen Sohnes.

Ein halbes Jahr Zeit für mich…

Anfang Februar 2020 wollte ich mir für ein halbes Jahr eine Pause gönnen. Ein halbes Jahr der dreijährigen Elternzeit, die mir als Elternteil zusteht und von der ich bisher erst 1 1/2 Jahre genutzt hatte (ein halbes Jahr davon hatte ich mich selbst in Teilzeit vertreten). Dieses halbe Jahr würde ich ohne Gehalt verbringen. Null Euro Einnahmen als „Preis“ für mehr Zeit für mich. Ein persönlicher Luxus, für den ich in den Monaten davor gespart hatte. Und eigentlich kein Luxus, sondern eine – körperliche – Notwendigkeit: Zu oft hatte ich während der vier Jahre davor vor innerer Anspannung nachts nicht geschlafen. Zu oft gedacht: dieses Gehetze von A nach B,  das gefühlt immer „zu wenig“, sowohl im Beruf als auch zuhause, die Spannungen, die dadurch zwischen dem Vater meines Kindes und mir entstehen – das alles macht mich krank. Abwegig ist das nicht. Ich habe eine, zum Glück gut behandelbare, Erkrankung der Schilddrüse. Deren Schübe werden unter anderem durch dauerhaften Stress ausgelöst. Will ich meine Gesundheit erhalten, muss ich gut für Auszeiten und Entspannung in meinem fordernden Alltag sorgen.

Seit Februar also noch einmal sechs Monate unbezahlte Elternzeit. Durch Kindergartenbetreuung und die Zeiten, in denen mein Sohn bei seinem Vater war, würde ich freie Zeit für mich selbst ergattern. Einfach mal zur Ruhe kommen, eigene Pläne verwirklichen, mich gegebenenfalls auch neu orientieren, wie mein beruflicher und privater Weg weiter verlaufen sollte. Kein Luxus, eine Notwendigkeit, ich spürte es.

… und dann kam Corona

Tja, und dann stellte ab Mitte März 2020 Corona Deutschland auf den Kopf. Oder vielmehr die politischen Entscheidungen, die zu seiner Eindämmung getroffen wurden. Seit 16.3.2020 sind deutschlandweit Kindergärten und Schulen geschlossen. Seitdem habe ich wieder 14-Stunden-Tage. Nur jetzt komplett unbezahlt. Als Lehrerin zähle ich nach den neuesten Bestimmungen und mit meiner Vorerkrankung offiziell zu einer Risikogruppe. Ich dürfte – bezahlt – meine Arbeit von zuhause ausüben. Ja, meine Tage wären neben der Kinderbetreuung weiter lang, aber ich würde Geld dafür bekommen. So bin ich von 6.30 Uhr morgens bis 20.30 Uhr vierzehn Stunden im Einsatz – und das komplett unbezahlt.

Homeoffice mit kleinem Kind?

Home-Office mit kleinem Kind ist über längere Zeit zudem fast unmöglich. Das beschreiben Zwei-Eltern-Familien, die momentan ohne jede äußere Unterstützung versuchen, in zeitversetzten Schichten bis in die Nacht hinein ihre Erwerbstätigkeit und die Fürsorgearbeit für ihre Kinder unter einen Hut zu bringen (ein guter Bericht dazu z.B. hier). Noch belasteter sind Allein- und Getrennterziehende, die bis jetzt [Stand 17.4.] in vielen Bundesländern nicht einmal eine Notbetreuung angeboten bekommen, selbst wenn sie für mehrere Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter verantwortlich und als Haupt- oder Alleinverdiener nachweislich auf ihre (bezahlte) Arbeit – egal ob „in kritischer Infrastruktur tätig“ oder nicht – angewiesen sind. Eine unterstützenswerte Petition, die das in NRW ändern will [und offensichtlich bereits (mit) ändern konnte, Stand: 17.4.], findet ihr hier.

Im Rahmen der aktuellen „Lockerung“ der Corona-Maßnahmen dürfen Geschäfte unter 800 m2 ab Anfang Mai wieder öffnen. Dazu gehören Frisöre ebenso wie Auto- und Fahrradhändler. Auch die anstehende Spargelernte soll unter „Einfuhr“ Zehntausender rumänischer Erntehelfern wie jedes Jahr stattfinden. Natürlich alles „unter strengen hygienischen Auflagen“. Wie diese genau aussehen und vor allem, wie sie im Einzelfall umgesetzt und überprüft werden sollen, bleibt vage.

In den Schulen bleiben dagegen die unteren Jahrgänge geschlossen, Kindergärten und Kindertagesstätten behalten zum jetzigen Stand bis zu den Sommerferien (!) ihr „Betretungsverbot“. Wer darunter leidet – und offensichtlich bei den politischen Entscheidungsträgern keine ähnlich starke Lobby hat wie die Agrar- und Autoindustrie – sind Eltern von Kindern unter zehn Jahren.

Care-Arbeit ist unsichtbar, weil unbezahlt

Und damit sind wir meiner Meinung nach beim Kernproblem dieser Diskussion um Homeoffice mit paralleler Kinderbetreuung und ob dieses über Monate „zum Schutz aller“ von Eltern kleiner Kinder gefordert werden soll und kann. Fürsorgearbeit für die eigenen Kinder – ebenso wie übrigens auch für bettlägerige oder chronisch kranke ältere Verwandte, die Menschen neben ihrer Erwerbstätigkeit zuhause betreuen – IST systemrelevant, unersetzlich – und eben unbezahlt. Anders als Landwirte, die Pilotenvereinigung oder die Gewerkschaftsvertreter von VW können Eltern aber nicht damit drohen, ihre Arbeit hinzuwerfen. Wie die Autorin eines Artikels zur Wertschätzung von (familiärer) Fürsorgearbeit in unserer Gesellschaft es formuliert: „Müssen Eltern ihre Kinder hungrig, nackt, und verstört auf die Straße stellen, um dann – im Home Office – adäquat ihrer Erwerbsarbeit nachgehen zu können, damit gesehen wird, dass das, was sonst Erzieher*innen und Lehrer*innen leisten […]?“

Warum das Thema „Fürsorgearbeit“ auf politischer Ebene dennoch – selbst jetzt – kaum oder nur nach zäher Intervention von Interessenverbänden Gehör findet? Warum Autohändler, Kioskbesitzer und Spargelstecher als „systemrelevant“ gelten und Millionen Eltern nicht? Ein Schelm, wer dies mit dem Umstand begründet, dass wirtschaftlich eben nichts „verloren“ geht, wenn Millionen von Menschen – und ja, es sind in einer Vielzahl von Fällen weiter Frauen – unbezahlt über Monate vor sich hinschuften, oft unter wirklich prekären, gesundheitsschädigenden Bedingungen. Häusliche Fürsorgearbeit war und ist komplett unbezahlt – und damit, man sieht es, offenbar auch politisch wunderbar zu ignorieren. Ein „Ehrenamt“ eben, das ich neben meinem (bezahlten) Beruf nun einmal auf mich nehme, wenn ich mich dazu entscheide, Kinder zu haben. Oder?!

Anerkennung und Bezahlung (familiärer) Fürsorgearbeit

Die Corona-Krise lässt aber gerade jetzt Stimmen laut werden, die dies ändern wollen. So forderten 43 renommierte Wissenschaftlerinnen in einem Kommentar zu den Empfehlungen des Leopoldina-Instituts, die Bedürfnisse von Familien mit kleinen Kindern nicht länger zu ignorieren. Gerade für Kinder im Kleinkind- und Vorschulalter seien die Kontakte zu Gleichaltrigen essentiell. Die Kinderbetreuungsangebote müssten also möglichst rasch und mit einem schrittweisen, transparenten Plan wieder geöffnet werden. Ein Interview mit der Initiatorin findet ihr hier.

Einzelne wie die alleinerziehende Mutter Silke Wildner forderten zudem in einem offenen Brief an Familienministerin Giffex die Bezahlung der Fürsorgearbeit, die sie im Rahmen von Homeschooling und Kinderbetreuung seit dem 16.3.2020 neben ihrer Erwerbstätigkeit für ihre Kinder übernommen hat. Eine Petition für Lohnausgleich berufstätiger Eltern bei fehlender Kinderbetreuung in der Corona-Krise hat dasselbe Ziel.

Ironischerweise hat wohl gerade die Dauerberichterstattung über Corona Anfang März eine Bundestagspetition zur Besserstellung von familiärer Fürsorgearbeit ausgebremst. Neben Corona finden bis heute andere gesellschaftlich relevante Themen kaum noch Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit. So erging es leider auch dieser Petition.

Wer laut ist, wird gehört

Ein paar gute Nachrichten gibt es zuletzt aber doch: Wer laut ist, wird in vielen Fällen offensichtlich auch gehört. In Bayern war eine Petition des VAMV Bayern zur Kindernotbetreuung für Alleinerziehende bereits erfolgreich. Ab 27.4. will das Bundesland die Betreuung grundsätzlich für Alleinerziehende öffnen, unabhängig von der „Systemrelevanz“ ihres Berufes. Auch andere Bundesländer haben bereits ähnliche Beschlüsse getroffen. Am 17.4. zog auch NRW nach. Auch hier wird ab dem 27.4. die Notbetreuung für Alleinerziehende geöffnet.

Ob dies auch für Alleinerziehende gilt, die ihren Beruf nach Aussage ihres Arbeitgebers im „Homeoffice“ ausüben können, bleibt nachwievor offen. Alleinerziehende in Elternzeit und Millionen berufstätiger zwei-Eltern-Familien mit kleinen Kindern, die aufgrund von Kita- und Schulschließungen im Home-Office arbeiten, sind zudem weiter von der Notbetreuung ausgeschlossen. Am grundsätzlichen Problem der Nicht-Wertschätzung von (familiärer) Fürsorgearbeit ändern also auch diese Entscheidungen nichts. Vielen Politikerinnen und Politikern sowie deren Beratern scheint nicht im Ansatz klar zu sein, welchen emotionalen, organisatorischen und auch körperlichen Einsatz die Betreuung von Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter Tag für Tag verlangt, erst recht, wenn, wie im Moment, von Eltern eine 1:1-Betreuung ohne weitere soziale Kontakte gefordert wird. Ganz abgesehen davon, dass der Verzicht auf Gleichaltrige und ihre Freunde für die Kinder selbst auf Dauer belastend ist.

Familiäre Fürsorge umfasst mehr als das körperliche Wohlergehen der uns Anvertrauten. Unser Engagement als Eltern ist unersetzbar. Systemrelevant. Und damit politisch. Das wird meiner Meinung nach bei manchen politischen Entscheidungen momentan vergessen.  Hier lohnt es sich, weiter zu kämpfen. Genau jetzt!

4 Gedanken zu „Fürsorgearbeit IST Arbeit. Unersetzlich. Systemrelevant. Unbezahlt.“

  1. Liebe Sarah!
    Ein ganz wunderbarer Artikel. Ich bin Tag für Tag immer wieder aufs Neue fassungslos darüber, wie mühelos uns die Kinderbetreuung als scheinbar gottgegeben politisch zugeschoben wird und wurde und wie wenig Familien und Ein-Eltern-Familien in diesem Land zählen. Wir vollbringen gerade Wunder unter dem vollen Einsatz unserer körperlichen und geistigen Kraft – hart an der Grenze – und dennoch soll nur die Erwerbsarbeit was „wert“ sein!?! Im Vergleich zu unserem Tagespensum ist reines HomeOffice ohne Kinder der reinste Wellness-Urlaub und wer das nicht glaubt, der darf gerne mal tauschen!
    Herzlichen Dank für das aufmerksam Machen auf die tolle Petition zum Corona-Geld für Familien. Wenn wir hier schon die Soforthilfen raushauen (für Nicht-Arbeit), dann dürfen die schwer arbeitenden Familien nicht leer ausgehen! Ganz besonders die Ein-Eltern-Familien, die sich nunmal nicht einfach über Nacht zweiteilen können. Vom Netflix-Leergucken sind wir Lichtjahre entfernt und von Langeweile oder zu viel Zeit Haben kann überhaupt keine Rede sein.
    Ich höre von so vielen Nicht-Eltern aktuell, dass die Corona-Zeit eine gute Gelegenheit ist mal persönlich runterzufahren und vieles zu überdenken. Echt jetzt?!? Ich laufe seit dem 16.3.2020 auf Hochtouren, bei parallel 90% Einkommenseinbußen. Aber mehr Zeit für die Erwerbsarbeit kann ich nicht finden. Daher freue ich mich sehr, dass in Hessen die Notbetreuung jetzt auch Kindern von Alleinerziehenden offen steht. Das ist ein Lichtblick für mich und ich hoffe, dass diese Möglichkeit bundesweit bald allen Alleinerziehenden zur Verfügung steht. Oder es muss ein Ausgleich für den Verdienstausfall geschaffen werden und zwar nicht nur hinter 1000 Auflagen versteckt, wie im aktuellen Podcast zu hören:
    https://gut-alleinerziehend.de/podcast/corona-finanzielle-misere-fuer-alleinerziehende-selbstaendige-podcast/

    Ganz liebe Grüße, Silke

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    1. Liebe Silke,
      herzlichen Dank für deinen Kommentar! „Im Vergleich zu unserem Tagespensum ist reines HomeOffice ohne Kinder der reinste Wellness-Urlaub und wer das nicht glaubt, der darf gerne mal tauschen!“ Bei diesem Satz musste ich gerade schmunzeln. Er wäre komisch, wenn er nicht so WAHR wäre… Und es ist einfach auch wahr: Kinder sind nicht gleich Kinder. Gerade im Kindergarten- und Vorschulalter steht die elterliche Fürsorge und Präsenz noch stark im Vordergrund. Ein 12- oder 14-Jähriger leidet sicher auch darunter, wochenlang seine Freunde nicht sehen zu dürfen, aber er kann sich zumindest einige Stunden lang allein beschäftigen.
      Es ist also überfällig, dass jetzt auch Familien in den Fokus der Politik kommen. Aber „Notbetreuung“ ist ja noch längst nicht der reguläre Betrieb. Ob sie Alleinerziehenden in Elternzeit oder arbeitssuchenden Alleinerziehenden offen steht, die Zeit für Bewerbungen, Jobsuche etc. bräuchten, ist ja noch völlig offen. Und Millionen von Eltern im „Homeoffice“ dürfen weiter irgendwie darum kämpfen, dass ihr Alltag funktioniert, ebenso wie die berufstätigen Eltern, die im Einzelhandel tätig sind und ihre Arbeitszeiten irgendwie mit der – ggf. nur tage- oder stundenweisen – Notbetreuung kombinieren müssen. Von der Ansteckungsgefahr in Kitas und Schulen wird zudem überall gesprochen, von der in Millionen von Einkaufsstraßen, wo die Menschen bald wieder täglich aufeinander treffen werden, komischerweise nicht. Das eine ist ja auch „wirtschaftsrelevant“, das andere (scheinbar) nicht – jedenfalls, solange die Eltern es irgendwie abfangen.
      Du siehst, ich bin ziemlich geladen gerade und denke, hier läuft bezüglich Prioritätensetzung gerade einiges schief. Wirklich nötig, sich dagegen klar auszusprechen, bzw. zu engagieren!
      Herzlichen Gruß, Sarah

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    2. Auf Facebook hat der Artikel übrigens in der Gruppe EditionF Familie, die sich nach eigener Aussage an Menschen richtet, die sich für Debatten rund um (gesellschafts-) politische Familienthemen interessieren, eine rege Diskussion angestoßen mit über 60 Kommentaren innerhalb weniger Stunden. Da es wie die Gut-Alleinerziehend-Gruppen jedoch eine geschlossene Gruppe ist, bleiben viele der bemerkenswerten Ansätze und Ideen eventuell ungehört, bzw. werden nur von denen gehört, die ohnehin schon einen interessierten und kritischen Blick auf diese Fragen haben. Bei den Entscheidungen zu Kita-Öffnungen oder Schließungen wollten sich z.B. Vertreter des NRW Kita-Verbandes an der Diskussion beteiligen – sie wurden schlicht nicht eingeladen: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-beschluesse-zu-schulen-und-kitas-mehr-pipi-kacka-fragen-wagen-kommentar-a-731443e9-7374-4dac-8bf3-b78b592a3246.
      Tja… da läuft meiner Meinung nach auch einiges schief: diejenigen, die es betrifft, müssen zu Wort kommen können und bei diesen weitreichenden politischen Entscheidungen beteiligt werden. Aber laut zu werden, sich gar politisch z.B. bei Interessenverbänden zu engagieren, wenn man zuhause vor lauter (Fürsorge-) Arbeit kaum noch weiß, wo einem der Kopf steht, ist eine doppelte Herausforderung!… Umso unterstützenswerter sind meiner Meinung nach diejenigen, die es trotzdem tun. Auch dafür habe ich meinen Artikel geschrieben, mit den entsprechenden Verweisen!

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