Beruf, Familie, Kunst

Kunst und Nuckelflasche? Vereinbarkeit von Kreativität und Mutterschaft

Alice Munro, Literaturnobelpreisträgerin im Jahr 2013, schrieb ihre Werke nach eigener Aussage am heimischen Küchentisch, „während die Kinder schliefen“. Ihrer Situation geschuldet, wandte sie sich dem Genre der „Short Story“ zu. Diese Textform war schlicht kurz genug, um nicht nur – wie Edgar Allan Poe es als Qualitätsmerkmal verstand – in einem Rutsch („at one sitting“) durchgelesen, sondern in ebenso kurzer Zeit verfasst zu werden. Denn an Zeit fehlte es Munro offensichtlich – wie (fast) jeder kreativ tätigen Mutter.

Kreativität braucht neben Zeit vor allem die Möglichkeit zur Fokussierung, die Gelegenheit und Energie, sich ausschließlich auf eine Sache zu konzentrieren. Im Grunde das genaue Gegenteil dessen, was das Dasein als Mutter auszeichnet. Manchmal führt das zu dem fast schmerzlichen Konflikt: Genau jetzt, in diesem Moment, tun sich vor dem inneren Auge die ersten Zeilen eines Textes auf, zeigen sich Formulierungen und beginnen sich Gedanken zu verdichten – da muss das Kind vom Kindergarten abgeholt werden, wacht aus dem Mittagsschlaf auf oder möchte nachts im Bett noch ein Glas Milch.

Muttersein – zumal mit einem Klein- und Kindergartenkind – ist ein Tanz der losen Enden. Unterbrochene und wiederaufgenommene Gespräche, abgestellte und wieder an sich genommene Gegenstände, eingeschobene und abrupt beendete Handlungen (den Topf auf den Herd, Nase geputzt, Kleid aus dem Schrank, Stoffhund gereicht, Suppe kocht über, Topf vom Herd gerissen…) – all das steht quasi unvereinbar dem Künstlerinnendasein gegenüber, das davon bestimmt ist, ganz bei einer Sache zu bleiben, sich ihr zu verschreiben und in ihr aufzugehen.

Wann schöpfen und schaffen Künstlerinnen, die auch Mütter sind, ihre Werke?

Die nüchterne Antwort: Sie lassen es bleiben. Oder arbeiten in den Nischen, die der Alltag mit Familie ihnen möglich macht. Als Autorin womöglich für Jahre in der komprimierten Form der Kurzprosa und des journalistischen Essays. Eben wenn die Kinder schlafen – und der Mann möglicherweise auch. Oder während die Suppe überkocht. Einige wenige nehmen sich die Freiheit, die den Männern über Jahrhunderte selbstverständlich war. Sie delegieren: die Kinder an die Betreuung, den Haushalt an helfende Hände. Dann spülen andere Frauen – in seltenen Fällen der eigene Mann – das Geschirr, tragen Schulränzen und flicken Hosen – während die Künstlerin reist, doziert, in reges Gespräch vertieft ihre Ansichten vertritt oder in kreativer Stille ihren Gedanken nachhängt.

Wie viele Künstlerinnen mit Kind(ern) führen ein solches Leben? Wie viele zerreißen sich andererseits zwischen Kinderfürsorge, Kunst und womöglich einem Beruf, der dem Broterwerb dient? Wie viele Künstlerinnen mit Kind können von ihrer Kunst leben? Wie viele verschreiben sich, auch mit Kind, tatsächlich über Jahre ihrer Kunst und reduzieren diese nicht auf die frauentypische „Bastelei“ aus Geburtstagstortendesign, Kinderlieddichterei und Partyorganisation im Elternbeirat des Kindergartens?

Mutter sein und zugleich kreativ zu sein erfordert Durchhaltevermögen, Intelligenz zur Schaffung von Freiräumen und eben ein nicht geringes Maß an gesundem Egoismus. Ich muss mich wichtig nehmen, um als Frau und Künstlerin „Jemand“ zu sein. Ich muss mir Raum und Zeit für mein künstlerisches Werk schaffen. Ich muss darauf bestehen, dass ich – mit all meinen Beziehungen – nicht nur „die Frau von“ oder „Mutter von“, also das relative Wesen, bin, zu dem meine Rolle als Mutter und meine Gefühle in dieser Rolle mich ohnehin schon machen.

A room of one’s own – mein eigener Raum

Virginia Woolfs weltberühmter „room of one’s own“, das Zimmer für sich allein, das sie für jede Künstlerin forderte, steht für die Autonomie, die ich als Künstlerin und Mutter immer wieder neu erringen muss. Mein Kind braucht mich – ich bin für es da. Aber meine Kunst braucht mich auch.

In früheren Jahrhunderten starben Künstlerinnen, Autorinnen und Philosophinnen oft schon bei der Geburt ihres Kindes, wie z.B. die Physikerin und Moralphilosophin Émilie du Châtelet, die im 18. Jahrhunderts das Werk des französischen Denkers Voltaire mit ihren eigenen Arbeiten maßgeblich beeinflusste und mit gerade einmal 42 Jahren kurz nach der Geburt ihres vierten Kindes starb.

Andere verzichteten, wie noch im 20. Jahrhundert die Denkerin und Autorin Simone de Beauvoir, ganz auf die Mutterschaft, um ihr kreatives Werk nicht zu gefährden. Für sie war die patriarchale Forderung, als Frau „mütterliches Verhalten“ zu zeigen und sich ausschließlich der Kinderfürsorge und Haushaltsführung zu verschreiben, unvereinbar mit ihren Selbstbild als Künstlerin und Frau. In ihrem eigenen Leben unternahm sie somit gar nicht erst den Versuch, beides zu vereinen.

Mutter und Künstlerin sein – es geht doch!

Aber es gibt auch Künstlerinnen, deren Schaffen „trotz“ ihrer Mutterschaft – oder gerade im Wechselspiel mit ihr – erfolgreich ist. Welche Autorinnen, Malerinnen, Musikerinnen oder Philosophinnen können uns modernen, künstlerisch tätigen, Müttern somit Vorbild und Hoffnungsträgerin sein? Künstlerinnen, die zeigen: Ja, es ist möglich, Mutter zu sein und zugleich mit der eigenen Kreativität Erfolg zu haben!

Alice Munro, Doris Lessing und Co

Die Autorin Alice Munro gilt heute als eine der bemerkenswertesten Autorinnen des 20. Jahrhunderts, nicht erst seitdem sie für ihr Werk den Literaturnobelpreis erhielt. Sie schuf bisher mehr als 150 Kurzgeschichten, die in diversen Sammelbänden publiziert und teilweise bereits verfilmt wurden, zudem ist sie Mutter von vier Töchtern. Ihre Erzählungen loten den Raum zwischenmenschlicher Beziehungen aus, die Mehrzahl ihrer ProtagonistInnen ist weiblich. Den Raum für ihr Schreiben hat Munro sich zeitlebens erkämpfen müssen, ebenso wie die – 2007 ebenfalls mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete – Autorin Doris Lessing. Deren drei Kinder kannten ihre Mutter nur schreibend, die ersten beiden Kinder lebten nach der Trennung von Lessings erstem Mann bei ihrem Vater. Als Autorin sah Lessing keine andere Möglichkeit, ihr Werk zu verwirklichen, ihr – recht drastischer – Kommentar dazu: „Nichts ist langweiliger für eine intelligente Frau als endlose Zeit mit kleinen Kindern zu verbringen. Ich merkte, dass ich nicht die erste Wahl für Kindererziehung war. Ich hätte als Alkoholikerin oder als frustrierte Intellektuelle wie meine Mutter enden können.“

Den eigenen kreativen Weg zu verfolgen scheint für Künstlerinnen unumgänglich zu sein, wollen sie für sich und ihr Lebensglück Sorge tragen. So arbeitet z.B. Gegenwartsautorin Cornelia Funke auch nach dem Tod ihres Mannes äußerst erfolgreich als Jugendbuchautorin (u.a. mit den Buchreihen „Reckless“ und „Tintenwelt“) und finanziert mit ihrer Arbeit ihr Leben sowie bis zu deren Erwachsenwerden das ihrer zwei Kinder. Auch J.K. Rowling, die „Erfinderin“ Harry Potters, mehrere Jahre lang alleinerziehend und mittlerweile Mutter dreier Kinder, arbeitete bereits jahrelang als Autorin, bevor sie mit ihren Fantasy-Romanen Weltruhm erlangte. Interessanterweise schreiben beide Jugendbücher, die auch Erwachsene faszinieren und haben somit offensichtlich ihre Einsicht in die Gefühls- und Lebenswelt ihrer Kinder für ihre Arbeit nutzen können. Ein ganz anderes Genre bedient Romy Hausmann, der 2019 mit dem Thriller „Liebes Kind“ ein deutschlandweiter Bestseller gelang. Auch sie ist alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter und verfolgte trotz langjähriger Misserfolge ihre Arbeit als Autorin mit Hartnäckigkeit und Konsequenz.

Von Élisabeth Jacquet de La Guerre bis Madonna

Bekannte Musikerinnen, die auch als Mütter ihren Beruf erfolgreich ausüben, sind z.B. Judith Holofernes („Wir sind Helden“), die italienische Rockmusikerin Gianna Nannini, die Aufsehen erregte, als sie mit 54 ihr erstes Kind bekam oder natürlich Pop-Ikone Madonna. Aber bereits im 17. und 18. Jahrhundert gab es erfolgreiche Musikerinnen und Komponistinnen, denen es gelang, Künstlertum und Mutterschaft zu verbinden. So arbeitete die Cembalistin und Komponistin Élisabeth Jacquet de La Guerre nach ihrer Entdeckung als Wunderkind am Hofe Ludwigs XIV über Jahrzehnte als Musikerin und Komponistin und ließ sich davon auch nicht durch den frühen Tod ihres Mannes sowie den Tod ihres Sohnes, der nur zehn Jahre alt wurde, abbringen. Noch im 18. Jahrhundert wurde sie in Musiklexika als „etablierte“ Musikerin des Barock gerühmt, erst danach geriet sie weitgehend in Vergessenheit.

Oda Jaune, Françoise Gilot und Annegret Soltau

Die bulgarische Malerin Oda Jaune ist ebenfalls Mutter einer Tochter, die sie gemeinsam mit dem 2007 verstorbenen Maler Jörg Immendorff bekam. Nach dem Tod ihres berühmten Mannes etablierte sie sich in Frankreich mit einem eigenständigen Werk und verfolgt ihre Arbeit bis heute, auch als alleinerziehende Mutter. Auch Françoise Gilot, ein Jahrzehnt lang Lebensgefährtin des Malers Pablo Picasso, ist bis heute eine erfolgreiche Malerin und Mutter dreier Kinder, die sie phasenweise alleine erzog. Ebenfalls beeindruckend die Künstlerin Annegret Soltau, Mutter einer Tochter und eines Sohnes, die in ihrem Werk immer wieder Themen wie Mutterschaft und das Verhältnis von Müttern und Töchtern thematisiert.

Künstlerin und Mutter zu sein ist also offensichtlich möglich. Es ist aber noch immer ein Balance-Akt, der Durchhaltevermögen, Energie und durchaus auch Leidensfähigkeit verlangt. Künstlerin werden oder bleiben, das gelingt als Mutter nicht „einfach so“. Rein physisch entfernt uns Frauen die Mutterschaft, ebenso wie die unzähligen großen und kleinen Herausforderungen des Alltags mit Kind(ern), zunächst einmal von uns selbst und gefährdet durchaus unsere Autonomie und Schaffenskraft als Künstlerin.

Frauen wie die oben genannten zeigen in all ihrer Unterschiedlichkeit aber, dass ein individueller Selbstausdruck und das Dasein als Künstlerin auch als Mutter möglich ist, manchmal sogar unterstützt durch die Fähigkeiten und Erfahrungenen, die wir als Mutter sammeln. Bleibe ich als Mutter meiner Kunst treu, ist diese für mich offensichtlich etwas, was ich als essenziell für mein Leben ansehe und was mir wichtig genug ist, um es nicht aufzugeben. Dann reduziere ich z.B. eine berufliche Tätigkeit, die dem reinen Broterwerb dient, um meinen Herzensanliegen zu folgen, nehme Durststrecken und Rückschläge auf mich, schaffe mir andererseits Netzwerke, die mich in meiner Arbeit als Künstlerin unterstützen und suche mir Mentorinnen und (weibliche) Vorbilder, die mich auf meinem Weg begleiten. Und nicht zuletzt befreie ich mich von der Vorstellung der Frau als „Gefäß“, das die Gedanken anderer aufnimmt und als Wesen existiert, das vor allem auf das Leben anderer ausgerichtet ist. Die beste Voraussetzung, um meinen Weg mit der Absolutheit einer Künstlerin zu gehen – auch als Mutter eines Kindes.

Kennt ihr weitere beeindruckende Künstlerinnen mit Kind oder seid ihr selbst Mutter und zugleich Schöpferin kreativer Werke? Dann stellt euch gerne in den Kommentaren vor. Ich freue mich über eure Erfahrungen als Denkanstoß und Inspiration!

Herzlichen Gruß, Sarah

[Fotos: Alice Munro (Peter Muhly/AFP/Getty), Oda Jaune (Joachim Gern), Madonna (chrisweger)]

4 Gedanken zu „Kunst und Nuckelflasche? Vereinbarkeit von Kreativität und Mutterschaft“

  1. Ein sehr, sehr guter und wahrer Artikel! Tatsächlich haben mein Mann und ich früher sehr gern und viel geschrieben, vielleicht sind wir auch aus diesem gemeinsamen Hobby heraus zusammengekommen. Mit den Kindern laufen unsere kreativen Anläufe tatsächlich, wie du es beschreibst, immer wieder ins Leere bzw., um nicht unfair zu sein, hängt es auch an der Arbeit. Zuvor waren wir ja noch Studenten und deutlich freier mit unserer Zeit und irgendwie auch mehr umgeben von Kunst durch unsere Kommilitonen, ich war auch viel im Theater und habe auch selbst gespielt; mein Mann hat gemalt, Videos gedreht…

    Der Alltag frisst vieles auf.
    Andererseits muss ich sagen: Wir haben jetzt so viel mehr zu erzählen! Ich wünsche mir, dass wir es ebenfalls schaffen, wieder den Zugang zur Literatur zu finden ❤ Zu den Künstlerinnen mit Kind fällt mir noch eine meiner Lieblingsautorinnen ein: Juli Zeh.

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    1. Liebe Nadine,
      danke für deinen Bericht aus eurem (kreativen) Familienleben! Ja, vermutlich sind es die Jahre mit kleinen Kindern – neben dem Beruf -, die soviel fordern, dass daneben tatsächlich kaum Raum für Eigenes bleibt. Ich persönlich setze jetzt Prioritäten (konkret: mehr Zeit durch weniger Beruf), weil ich ohne dieses Eigene und Kreative einfach unzufrieden werde. Herzlichen Gruß, Sarah

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  2. Einige kreative Berufe sind mit Kind quasi ausgeschlossen, zumindest die ersten Jahre, und vor allem, wenn man alleinerziehend ist und wenig Unterstützung von außen hat. Da die meisten kreativen Berufe ja sowieso prekär bezahlt sind und vor allem für Frauen (siehe Einkommenstabellen der Künstlersozialkasse), gibt es nicht genügend Geld, um für die nötige Betreung durch Dritte aufkommen zu können, Kindergärten decken die Zeiten kaum ab.

    In meiner Zeit vor dem Kind waren die Schauspieler (m) am Theater meist Väter mit einem der mehreren Kindern, sie spielten weiter, während die Frauen fast alle kinderlos waren, das kann man sich doch kaum leisten. Für Frauen also eine Frage von entweder oder, für Männer weniger. Frauen geben da eher ihre Karriere auf, denn es ist schwer, wieder in den Beruf hineinzukommen. Hat man ein Festengagement, wird auch dieses von Jahr zu Jahr verlängert, kann also gut sein, dass es nach der Elternzeit einfach nicht verlängert wird.

    Ich hab nach der Geburt meiner Tochter eine Weiterbildung gemacht und bin seitdem selbtständig in diesem Bereich tätig. Am Anfang war ich so erschöpft, dass meine Kreativität sich darin erschöpfte, einigermaßen bis zum nächsten Quäntchen Schlaf durchzuhalten;-)

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    1. Hallo Julie,
      herzlichen Dank für deinen Bericht aus dem echten Leben! Ich nehme an, du warst, bzw. bist selbst im Bereich Schauspiel tätig. Sehr interessant für mich, mal die Erfahrungen einer berufstätigen Mutter aus diesem Berufsumfeld zu hören!

      Ja, es liegt meiner Meinung nach oft nicht an unserer Motivation als Mutter, wieder in den Beruf einzusteigen, gerade, wenn wir unsere Tätigkeit eigentlich lieben, sondern an wirklich familien- und damit regelrecht frauenfeindlichen Strukturen. Und das Umdenken „Männer UND Frauen sollen auch mit Kind ihrem Beruf und ihrer Leidenschaft nachgehen können“ hat sich in genau diesem Strukturen noch nicht wirklich niedergeschlagen. Auch an meiner Schule (eigentlich ja ein gemeinhin als familienfreundlich bekanntes Arbeitsumfeld), arbeiten immer noch 100% der Väter Vollzeit und bis auf eine alle Mütter mit kleinen Kindern Teilzeit (inkl. natürlich aller finanzieller Einbußen). Puh… Da steht noch viel an Veränderung an – auch in den Köpfen!🙂
      Viele Grüße, Sarah

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