
„Du hast die Wahl!“ Wenn wir etwas unseren Kindern vermitteln, dann doch, dass sie als Erwachsene über ihr Leben weitgehend frei entscheiden können. Jedenfalls tun wir dies wahrscheinlich im Jahr 2021 als westlich sozialisierte Eltern. Weltweit ist diese Wahlfreiheit für Frauen und Mädchen allerdings noch längst keine Selbstverständlichkeit. In den letzten 200 Jahren mussten sich Frauen das Recht zu wählen und gewählt zu werden hart erkämpfen. Welche Vorkämpferinnen des Frauenwahlrechts dabei eine wichtige Rolle spielten und was Mädchen und Frauen heute in Bezug auf das Wahlrecht und überhaupt auf gleiche Rechte und Möglichkeiten erreicht haben – das alles ist nachzulesen im wunderbaren Buch „Die Stimme der Frauen. Das Frauenwahlrecht Kindern (und ihren Eltern) erklärt“. Ein Geschichtsbilderbuch für Mädchen und Jungen ab 9 Jahren, erschienen 2021 im Schweizer Helvetiq-Verlag.
Herr Willkür und die Rechte der Mädchen
Das Buch beginnt mit einer Parabel, die deutlich macht, wie ungleich die Rechte von Männern und Frauen auch heute in vielen Ländern der Welt noch sind. Ein neuer Lehrer, „Herr Willkür“ stellt im Klassenzimmer seine Regeln auf: Mädchen werden bei ihm rundweg ignoriert, sie haben kein Recht mehr, sich an der Klassensprecherwahl zu beteiligen, die Jungs dürfen entscheiden, was auf dem Pausenhof gespielt wird und die Mädchen haben sie in der Schulkantine zu bedienen. Außerdem brauchen Mädchen ab sofort die Erlaubnis der Jungen, wenn sie sich etwas von ihrem Taschengeld kaufen möchten und diese dürfen sogar entscheiden, welche Kleider sie tragen.
Ungerecht? „Nun, jahrhundertelang erging es Frauen so oder ähnlich.“, bemerkt Caroline Stevan, Autorin des Buches, nüchtern: „Sie lebten in Ländern, in denen sie nicht ihre Meinung zu Vorschriften sagen durften, die den Alltag der Bevölkerung regelten, also auch ihren und den ihrer Kinder. Männer stimmten über Gesetze ab. Männer waren Chefs, Bürgermeister, Minister oder Präsidenten. Männer hatten Rechte und konnten entscheiden, dass Frauen keine haben.“
Wahlrecht und politische Beteiligung von Frauen
Dass sich Frauen dagegen – zu Recht – auflehnten, zeigt das Buch im weiteren Verlauf. Von Olympe de Gouges bis Emmeline Pankhurst stellt es historische Kämpferinnen für Frauenrechte vor, wobei auch Frauen ihren Raum bekommen, die im Westen eher unbekannt sein dürften, wie zum Beispiel Huda Scha’arawi, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Ägypten für die Bildung von Mädchen und Frauen einsetzte oder Bertha Lutz, die 1936 in Brasilien als eine der ersten Parlamentarierinnen der Welt tätig war.
Mit ausdrucksstarken Zeichnungen verdeutlicht Illustratorin Elina Braslina nicht nur, mit welchen Mitteln sich die Frauen für die Rechte ihrer Geschlechtsgenossinnen einsetzten, sondern macht auch deutlich, welche immer gleichen Argumente gegen die politische Beteiligung von Frauen vorgebracht wurden. Dabei muten Plakate wie das der Schweizer Volksabstimmung gegen das Frauenwahlrecht, die als Schreckensbild einen Mann zeigen, der einem Baby das Fläschchen gibt, heute zum Glück eher komisch an. Weniger amüsant, da vielerorts leider immer noch aktuell, sind dagegen Sprüche wie „Frauen müssen sich um Kind und Haushalt kümmern und haben keine Zeit für etwas anderes“ oder „Frauen sind zu sensibel für die Politik“, die manche politisch interessierte und aktive Frau wohl auch heute noch aus eigener leidvoller Erfahrung kennt.

Das Buch zeigt weiter, wann Frauen weltweit tatsächlich das Wahlrecht erhielten und in welchen Ländern Staatschefinnen die Politik gestalteten und gestalten. Von der Isländerin Vigdís Finnbogadóttir, der ersten demokratisch gewählten Präsidentin der Welt, bis hin zur neuseeländischen Regierungschefin Jacinda Ardern werden hier interessante Persönlichkeiten vorgestellt.
Welche Wahl haben Frauen heute?
Den Abschluss des Buches macht ein Überblick, wo Unterschiede zwischen Männern und Frauen trotz des inzwischen fast überall geltenden Frauenwahlrechts weiterhin bestehen: Frauen verdienen im Durchschnitt deutlich weniger als Männer, kümmern sich mehr um Haushalt und Kinder, werden in der Sprache oft noch „mitgemeint“, aber nicht explizit angesprochen. Werke von Frauen sind in Museen seltener vertreten und es gibt noch immer nur wenige Frauen, die als Professorinnen, Firmenchefinnen und hohe kirchliche und politische Vertreterinnen die Welt gestalten.
Es bleibt also noch viel zu tun, bis Mädchen und Frauen tatsächlich in allen Bereichen unserer Gesellschaft gleiche Chancen und eine wirklich freie Wahl haben. Dieses Buch – spannend nicht nur für Kinder – ist ein weiterer Schritt dorthin.
Herzlich, Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)
Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen und Mutter eines Kindergarten- sowie eines Grundschulkindes.
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[Foto: privat, ich danke dem Verlag für das zu Verfügung gestellte Rezensionsexemplar. Der Beitrag gibt dennoch ausschließlich meine persönliche Meinung wieder.]