
Wie sieht das Leben mit Corona im Herbst 2021 aus? Die Meinungen darüber gehen vermutlich auseinander. Ich habe hier im Blog immer wieder über die Pandemie geschrieben und auch über politische Maßnahmen, die zu ihrer Bekämpfung in Deutschland ergriffen wurden. Manches fand ich ermutigend, anderes sehe ich bis heute kritisch. Besonders die Situation von Frauen und Kindern, beziehungsweise Familien überhaupt, schien und scheint mir in der Pandemie oft zu konservativ betrachtet zu werden, ausgerichtet auf ein Familienbild weit vor der Pandemie, in dem vor allem Mütter wieder einmal alles stemmen sollten: Kinder, Beruf und ihre persönliche Gesundheit – und das zeitweise komplett ohne äußere Unterstützung wie die eigentlich gesetzlich garantierte Kinderbetreuung in Kitas und Schulen. Dass ich das nicht in Ordnung finde, habe ich deutlich geschrieben – und habe den Eindruck, das Thema Familien in der Pandemie hat inzwischen durchaus auch Gehör bei politischen Entscheiderinnen und Entscheidern gefunden. Mit welchen Ergebnissen, wird die Zukunft zeigen, gerade auch jetzt, nach der Wahl der neuen Bundesregierung. An dieser Stelle möchte ich ein persönliches Resümee ziehen, was die inzwischen 1 1/2 Jahre Pandemie für mich als Mutter zweier Kinder bedeuten und was ich mir für die Zukunft für uns als Familie und unsere Gesellschaft wünsche.
Können wir überhaupt noch zu einem Leben vor der Pandemie zurück?
Im Frühjahr 2020 erschien mir die Pandemie und alle sie begleitenden Maßnahmen wie Schul- und Kitaschließungen, die plötzliche Rationierung von Lebensmitteln, Abstands- und Hygieneregeln und die Maskenpflicht wie ein böser Spuk, aus dem ich einfach nur möglichst bald zu erwachen hoffte. Und ich gebe zu, noch im Sommer 2020 rechnete ich damit, dass spätestens im Frühjahr 2021 alles wieder „normal“ sein würde, das Thema Corona eines unter vielen. Jedenfalls nicht mehr dauerbestimmend für unser tägliches Leben.
Ist es so gekommen? Nun, im Herbst 2021 ist das Leben mit dem Virus und allen Maßnahmen, die es begleiten, auch für mich zu einer Art Normalität geworden. Wobei ich noch immer oft die Diskrepanz spüre zwischen dem, was ich innerlich als sinnvoll und stimmig empfinde, und vielem, was ich außen wahrnehme.
Der Alltag wirkt fast wie vor Corona
Was mir auffällt: im Alltag, wenn ich einfach nur durch die Straßen gehe, könnte ich fast glauben, die Pandemie sei vorüber. Da sitzen Erwachsene dicht beieinander in Kneipen und Cafés, Kinder spielen auf Spielplätzen ohne Abstand und Maske miteinander und ihre Eltern stehen im Gespräch vertieft zusammen. Sogar Straßenfeste finden wieder statt. Und auch hier Menschen dicht an dicht ohne erkennbare Schutzvorkehrung, und keiner scheint sich daran zu stören.
Zugleich mahnt in unserem kleinen Städtchen jeden Samstag eine Handvoll Unermüdlicher vor dem Rathaus mit Reden und Transparenten, Freiheit und Selbstbestimmung gingen gerade den Bach herunter. Zeitgleich entwerfen Menschen wie Politiker Karl Lauterbach ebenso unermüdlich weitere Schreckensszenarien der Pandemieentwicklung. Und die Menschen dazwischen? Die scheinen einfach „ihr Ding“ zu machen. Beobachte ich die oben beschriebenen Szenen, scheint das Virus und das Leben damit für viele tatsächlich Alltag geworden zu sein. Der Wunsch nach Gemeinschaft, Unbeschwertheit – und das analog vor Ort und ohne spezielle Schutzvorkehrungen – scheint unverändert da zu sein. Und wie es aussieht, gehen viele ihm einfach inzwischen auch wieder nach.
Sicherheit ja – Unterstützung bekommen aber längst nicht alle
Zu einem Gefühl von Sicherheit mag für nicht wenige beitragen, dass inzwischen über 60 Prozent der Bevölkerung in Deutschland geimpft sind. Manche haben vielleicht auch nur einfach die Schnauze voll vom Dauerfokus auf eine Erkrankung, die im Leben vieler eben tatsächlich nur ein Thema neben anderen ist. Gastronominnen und Veranstaltungsorganisatoren wünschen sich endlich wieder zahlende Kundinnen und Kunden, Eltern und Kinder sehnen sich nach verlässlichen Strukturen, gesichertem Zugang zu Bildung und nach nicht-virtuellem Kontakt. Ältere teilen diesen Wunsch offensichtlich auch, wollen außerdem reisen und ihre freie Zeit genießen.
Und das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Seniorenheimen? Erzieherinnen in Kitas und Kindergärten? Lehrerinnen und Lehrer in Schulen? Sie ächzen unverändert unter Vorschriften, die ihre Arbeit oft erschweren, statt sie zu erleichtern. Die praxisfern Schutz versprechen und dabei alle Beteiligten eigentlich nur belasten. Zusätzlich zu schon bestehender Raumnot, zu Personalmangel und unvermindert und dauerhaft mageren finanziellen Mitteln.
Kitas können die eigentlich garantierte Betreuungszeit aufgrund von Personalmangel nicht aufrechterhalten, Alte im Pflegeheimen und Schwerkranke leben noch immer oft isoliert und werden nach Minutenabrechnung „gepflegt“, Kinder und Jugendliche und ihre Eltern suchen vergeblich psychologische und pädagogische Unterstützung, wenn die Wochen der Lockdowns und des „Distanzlernens“ nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen sind.
Die Pandemie als Weckruf – hören wir ihn?
Das finde ich das eigentlich Kranke an dieser Pandemie: sie hat bestehende Ungerechtigkeiten und Missstände zwar deutlich sichtbar gemacht, aber bis jetzt scheint noch kaum jemand sie wirklich als Weckruf begriffen zu haben.
Zurück zu einer Normalität, wie wir sie vor der Pandemie hatten? Ja, bitte, was die Unbeschwertheit im Miteinander angeht. Auch dass ich, unabhängig von meinem Impf- oder Teststatus, wieder mit Freunden einen Kaffee trinken und Veranstaltungen besuchen kann, die ich gern besuchen möchte; dass ich im Alltag von medizinischem und epidemiologischem Fachvokabular verschont bleibe und mein jetzt einjähriger Sohn seine Kinderärztin ebenso ohne Maske kennen lernen kann wie meine Nichte in der 1. Grundschulklasse ihre Lehrerin.
Nein, bitte nicht im Sinn von immer weiter ungebremstem Konsum, im Sinn der Produktion von Bergen von Plastikmüll, im Sinn des Umgangs mit Menschen und Ressourcen vor allem mit Blick auf ihre ökonomische Verwertbarkeit. Nein auch in Hinblick auf die Sorglosigkeit körperlicher und seelischer Gesundheit gegenüber, die vor der Pandemie normal war: dass Menschen mit geringem Einkommen in Wohnungen mit schimmligen Wänden oder neben Stadtautobahnen wohnen müssen, wo ihre Kinder täglich Feinstaub inhalieren. Dass Tabakkonzerne vor Schulen und Kindergärten ihre Produkte bewerben dürfen. Dass pflegende Angehörige, Alleinerziehende oder einfach nur Menschen, die für andere sorgen, in Burnouts geraten, bevor sie endlich selbst Hilfe bekommen. Dass Begegnungsstätten für Jugendliche oder Frauenhäuser um jeden Cent kämpfen müssen, während große Konzerne staatliche Subventionen in Milliardenhöhe erhalten. Dass Hebammen wegen absurd hoher (Pflicht-) Versicherungen ihren Beruf nicht mehr ausüben können. Dass Gesundheit überhaupt noch immer viel zu sehr als rein körperlicher und individueller Zustand gesehen wird.
Gesundheit ist weit mehr als frei von Krankheit zu sein
Eine Gesellschaft aber, die Menschen mit geringem Einkommen oder Hartz 4-Bezug unter Druck setzt und in vielerlei Hinsicht den Zugang zum sozialen Leben erschwert, die strukturell und gewohnheitsmäßig Ressourcen verschleudert, die Bedürfnisse von Kindern, Kranken und nicht mehr konsumfähigen Alten offenbar geringer schätzt als die der leistungsfähigen (und zahlenden) Bevölkerung – eine solche Gesellschaft ist unabhängig von jeder Pandemie ziemlich krank – und benötigt dringend Erneuerung und Reformen.
Wie ich in einem meiner Artikel zur Pandemie schrieb: Gesundheit ist weit mehr, als körperlich frei von Krankheit zu sein. Und eine Gesellschaft, in der meine Kinder und ich gut, sicher und mit Wohlbefinden leben können, strebt nicht bloß Virenfreiheit an, gängelt Menschen nicht mit 3G, 2G und Daueralarmierung – sondern geht endlich die Dinge an, die uns und unsere Kinder betreffen werden, wenn dieses Virus tatsächlich längst Geschichte sein wird: wie wollen wir dann leben, mit der Natur, mit unserem Mitmenschen? Welche Form des sozialen Miteinanders schließt auch Schwache ein und nicht aus? Was in diesem Jetzt ist tatsächlich im ganzheitlichen Sinn zukunftsfähig?
Die globale Krise als Chance?
Die Dauerkonzentration auf das Virus und seine Bekämpfung verhindert meinem Eindruck nach gerade in vielen Bereichen, dass genau diese Fragen gestellt und die oben genannten Herausforderungen angegangen werden. Vielleicht tun viele Menschen also nur gerade intuitiv etwas sehr Gesundes, wenn sie ihren Blick jetzt wieder auf das richten, was für jeden einzelnen so wichtig ist wie für unsere Gesellschaft im Ganzen: Gemeinschaft, Fröhlichkeit, auch Unbeschwertheit. Dass hieraus nicht bloß selbstbezogener, hedonistischer Konsum wird, ist meine große Hoffnung. Dass in diesem Sinn die „neue Normalität“ der alten tatsächlich langfristig nicht gleichen wird, auch.
Ob unsere Gesellschaft die Pandemie tatsächlich als Wendepunkt begreift, diese globale Krise als Chance im tieferen Sinn, oder ob sie nur versucht, mit aller Kraft am „Weiter so“ festzuhalten – die Zukunft wird es zeigen. Hoffentlich stehen unsere Kinder bald wieder unmaskiert und ohne Sicherheitsabstand auf der Straße und fordern demonstrierend von uns die Entscheidungen, die ihnen morgen ein lebenswertes Leben ermöglichen werden. Hoffentlich beginnen wir – tatsächlich fürsorglich und solidarisch – dieses Leben auch schon heute. Es wäre zu schön, wenn genau das in wenigen Monaten die „neue Normalität“ mit Virus wäre!
Nachdenkliche Grüße
Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)
Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familienthemen und Mutter eines Babys sowie eines Kindergartenkindes.
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