
Manchmal erfordert die Wirklichkeit, sich ihr ein Stück weit zu entziehen, um sich ihr anschließend mit Mut und Entschlossenheit wieder stellen zu können. Daher an dieser Stelle – ganz außerhalb der sonstigen Themen meines Blogs – die Geschichte des Herrn Ku, die mich anflog, als ich bei einem Spaziergang an dem oben abgebildeten Aushang vorbeikam. Ein Märchen, dem ich wünsche, wahr zu sein. Oder, wie es der spanische Philosoph und Essayist José Ortega y Gasset formuliert: „Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohlgeöffnete Augen.“ Aber lest selbst!
Glück zum Mitnehmen. Die Geschichte des Herrn Ku
Herr Ku mochte die kleine Mansardenwohnung, in der er seit gut einem halben Jahr lebte. Morgens fiel die Sonne durch das Dachfenster und vergoldete seine Hände, die die Schale mit Reisbrei hielten.
Herr Ku mochte auch seine Vermieterin, Frau Lotrecht, die manchmal hinter der Tür wartete, wenn er die Treppen hochging und ihn zu einem Jasmintee einlud. „Den mögen Sie doch sicher“, vermutete sie. Vielleicht, weil Herr Ku aus Peking kam.
Nach Deutschland war er der Arbeit wegen emigriert. Zuerst hatte er in der Fischstäbchenproduktion gearbeitet, dann eine Weile in einem Asia-Laden, aber die Arbeit war ihm zu hektisch geworden. Immer „Zweimal Nummer Drei mit Reis“. Nach einer Weile hatte er den Bratfettgeruch noch nachts in der Nase. Jetzt also räumte er im Supermarkt Regale ein. Früh morgens, bevor die ersten Kunden kamen. Er mochte die Arbeit und machte sich einen Spaß daraus, mit sich selbst in Wettbewerb zu gehen. Ob es ihm wohl heute gelingen würde, noch ein wenig schneller als gestern seine Palette leer und die Waren ins Regal zu räumen? „Herr Ku ist fleißig“, sagten die Kollegen. „Der schafft was weg“, sagte der Chef. „Der ist freundlich, redet aber nicht viel“, waren sich alle einig. Und damit war Herr Ku ganz zufrieden.
Denn eigentlich hatte er nur einen wirklichen Traum und den hätte er seinen Kolleginnen und Kollegen im Supermarkt ohnehin nicht erzählen können: Er wollte einmal von Norden nach Süden durch Europa. Zu Fuß.
Er hatte schon geübt. Mit langen Spaziergängen durch das Viertel, dann durch die Stadt. Inzwischen schaffte er es an einem Tag in den 30 km entfernten Nachbarort und zurück, ohne dass ihm abends die Füße schmerzten. Er trainierte auch zuhause auf einem aus zweiter Hand gekauften Laufband. Eigentlich war er schon ganz gut in Form. Und der Tag, an dem er losgehen wollte, stand auch schon fest.
Dann aber geschah etwas, was Herrn Kus Welt erschütterte. Ganz Europa schloss die Grenzen. Reisen war nur noch erlaubt mit festem Ziel. Herbergen durften nur noch Geschäftsreisende aufnehmen. Wer konnte, blieb zuhause und war höchstens noch im Park nebenan zu Fuß unterwegs.
Was nun?, dachte Herr Ku. Aber da er nicht aus Peking nach Europa gekommen war, um seine Träume zu begraben, entschied er eines Morgens, er würde trotzdem gehen. Darum schrieb er viele Briefe, konversierte in gebrochenem Deutsch mit Behörden und stellte über seinen Chef im Supermarkt den Kontakt zu einem Blumengroßhändler her.
Und dann ging er los. Frau Segers in Norddeich hatte Tulpen bestellt. Herr Rutgers in Hannover Nelken. Frau Bergren in Kassel gelbe Rosen. Und so weiter. Bis zu Mme Bec in Paris, Monsieur Louton in Marseille, Herrn Artis in Sevilla und Frau Bancu in Gibraltar.
Herr Ku würde sie beliefern. Schritt für Schritt, von Tür zu Tür, auf seinem Weg durch Europa. Zu Fuß, mit Blumen im Gepäck. Und er wusste jetzt schon, dass er glücklich sein würde. Und alle, denen er die Blumen brachte, auch.
Herzliche Grüße
Sarah (mutter-und-sohn.blog)
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[Foto: privat]
Ich bin recht viel bisher gereist, beruflich und privat. Das letzte Jahr hab ich mich, nicht nur wegen der Pandemie, auf einen Nahbereich beschränkt. Reisen ist eine tolle Sache, aber man kann auch um sich herum Neues entdecken.
Denke ich werde mich des Themas Reisen mal annehmen, es kommen viele Gedanken.👍
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Mir fällt hierzu auch die Geschichte einer Familie ein, die ich persönlich kenne, und die 2020 als langgehegten Wunsch mit einem selbst ausgebauten Camper auf Europareise gehen wollten. Sie haben gespart, sich monatelang eingeschränkt, ihre Wohnung aufgelöst – und bis jetzt steht in den Sternen, ob sie überhaupt Deutschland verlassen können. Vielleicht Luxussorgen in dieser Pandemie, aber Reisen kann viel mehr bedeuten als bloßer heiterer Zeitvertreib… Viele Grüße, Sarah
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Reisen bedeutet in jedem Fall viel mehr, erweiterter Horizont, neue Ideen, Fremdheiten auflösen, aber auch eine riesige Zerstörung der Natur. Ich habe fast 25 Jahre Tourismus hinter mir.
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Ja, Reisen bedeutet mehr als Unterhaltung, der Meinung bin ich auch – und, je nachdem, wie man es gestaltet, ja auch nicht notwendigerweise mehr Belastung für die Umwelt als der Alltag zuhause (14-Tage-Urlaube mit Langstreckenflug mal ausgenommen…). Im Blogbeitrag steht die Reise des Herrn Ku für mich zudem für die Fähigkeit, auch in schwierigen Situationen Lösungen zu finden und die eigenen Wünsche mit Kreativität und Mut trotz Widrigkeiten zu verwirklichen. Etwas, was natürlich auch vor Ort möglich ist!:-)
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Ich mache die Umweltzerstörung nicht an Flügen fest. Meistens kamen erst Bagpacker an schöne Orte, wie zB. Vietnam, dann gibt es diese Geheimtipps und später Hotelburgen und all die Geschichten die dann so passieren. Da ist es schwer ein Fazit zu ziehen, Tourismus bringt Jobs, Geld aber auch Leid.
Aber man könnte Lösungen finden, einige Orte und Länder schaffen es, sie begrenzen zum Beispiel die Gästezahl.
Ich bin für Reisen, denn jede Reise, die geistige, oder die analoge Ortsreise, erweitern Horizonte.
Manchmal ist eine Veränderung der eigenen Position nötig, der Positionswechsel schafft neue Blickwinkel und somit mögliche Lösungen.
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