
Drei Szenen der letzten Woche: Im Park macht eine Gruppe Schulkinder in Begleitung ihrer Lehrerin offenbar einen Klassenausflug. Die Kinder sind 9 oder 10 Jahre alt. Alle tragen einen Mund-Nasen-Schutz. Alle Erwachsenen in der Umgebung, außer der Lehrerin, sind im Freien ohne Gesichtsbedeckung unterwegs. Zweite Szene: in der Haupt-Einkaufsstraße unseres Viertels drückt mir eine junge Frau einen Flyer in die Hand: „Buggy-Sport (Markenname geändert) – Ihr Workout mit Baby nach der Geburt“. Schließlich fällt mir neben den öffentlich zugänglichen Balancierbalken auf einem Grünstreifen in der Nähe, seit rund einem Jahr beliebt bei den Kindern der Umgebung, ein Schild auf: „Bei dieser Anlage handelt es sich um einen Fitness Parcours. Die Geräte wurden als Sportgeräte zu Trainingszwecken konzipiert. Bitte beachten: Training an der Anlage für Personen ab 14 Jahren“. Und?
Kinder in Deutschland sind kostbar – und sie haben ihren Preis
Nach Aussage der Bundesfamilienministerin sollen Kinder und ihre Eltern in Deutschland finanziell und gesellschaftlich gefördert und gestärkt werden. Zugang der Kleinsten zu früher Bildung in Krippen und Kindergärten, ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, Kindergeld. Das alles sind Errungenschaften der letzten 60 Jahre. Sie sind es wert, erwähnt zu werden!
Zugleich sind Kinder in Deutschland in ganz anderer Weise „ihr Geld wert“. Medien, Spielzeughersteller und Modefirmen buhlen bereits um die Kleinsten. Vom Markenstrampler bis zum oben erwähnten Joggingkurs für frischgebackene Mütter – Kinder sind in einer Gesellschaft, in der Eltern oft lediglich ein- bis maximal zweimal Nachwuchs haben, auch ein Markt für all diejenigen, die an ihnen verdienen wollen.
Und nicht zuletzt sind Kinder ein Kostenfaktor für diejenigen, die für sie sorgen, ihnen ihre Zeit und Energie widmen, sie emotional begleiten und finanziell für sie aufkommen. Auch im Jahr 2020 sind das vor allem Frauen. In Familien sowie in Kindergärten und (Grund-) Schulen betreuen und unterrichten in erster Linie Frauen unsere Jüngsten. Und sie zahlen den Preis dafür. In Form niedrigerer Gehälter, familiärer Abhängigkeiten und geringerer beruflicher Aufstiegschancen, zuletzt erwähnt in einer vielbeachtete Studie der Bertelsmann-Stiftung.
Die wirtschaftliche und soziale Stellung von Kindern
Zwischen der sozialen Position derjenigen, die in der Mehrzahl für Kinder sorgen und der gesellschaftlichen Stellung der Kinder selbst gibt es meiner Meinung nach einen Zusammenhang. Und es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was politisch und seitens der Wirtschaft propagiert wird und der Realität, die Kinder – und ihre Eltern – tagtäglich erleben. Die Botschaft der aktuellen Familienpolitik: Kinder und diejenigen, die für sie sorgen, sind es wert, geschützt, geschätzt und gefördert zu werden. Die Botschaft wirtschaftlicher Unternehmen: Eltern, investiert in eure Kinder! Sie sind Prestige-Objekt und zukünftige Leistungsträger/innen unserer Gesellschaft.
Wie aber sieht die Realität vieler Familien in Deutschland im Jahr 2020 aus? Die Wochen des Corona-Lockdowns und die politischen Entscheidungen seitdem lassen mich daran zweifeln, dass die Bedürfnisse und Rechte von Kindern (und ihren Eltern) in unserer Gesellschaft wirklich ernst genommen werden.
Kinder als Risiko unserer Gesellschaft?
Wer Kinder hat und aktiv für diese sorgt, weiß: das Leben wird durch sie intensiver, es wird auf wunderbare Weise sinnvoll – aber eben auch weniger kalkulierbar. Kinder sind kooperativ, aber sehr selten in erwachsener Weise „vernünftig“. Die Qualität gerade kleinerer Kinder liegt ja darin, dass sie noch eng mit ihren Gefühlen verbunden sind, dass sie sich, über ihre Fragen und ihren Bewegungsdrang, spielerisch die Welt erobern. Unterstützen wir unsere Kinder dabei, bewegen sie sich bald selbstsicher und mit großer Offenheit und Neugier in ihr.
Während des Lockdowns Anfang des Jahres wurden Kinder – vor allem die Jüngsten im Kindergarten- und Grundschulalter – von Politiker/innen und Medizinern aber vor allem als Risiko wahrgenommen. Übertragen die Jüngsten das Virus in Kitas und Schulen? Wie lässt sich dort das Kontaktverbot umsetzen? Wie erledigen Eltern ihre berufliche Arbeit möglichst umfassend, während sie gleichzeitig ihre Kinder betreuen? Fragen dieser Art beschäftigten uns von etwa Mitte März bis Anfang Juni diesen Jahres.
Fürsorge und Erziehung – nicht so wichtig?

Mit dem Argument des Gesundheitsschutzes wurde die Fürsorge- und Erziehungsarbeit von einem Tag auf den anderen ins Private verlagert und Eltern mit dieser Doppelbelastung in bedrückender Weise über Wochen allein gelassen.
Diese Geringschätzung von Bildungs- und Fürsorgearbeit spüren besonders Frauen seit Jahren: „Was, du willst Vollzeit arbeiten mit (kleinem) Kind?“, „Habt ihr eine gute Betreuung – oder musst du beruflich kürzer treten?“, „Nimmst du Elternzeit oder willst du dich beruflich weiterentwickeln?“ All diese Fragen suggerieren: wer Kinder hat, ist vor allem eines – für Beruf und Wirtschaft weniger verfügbar.
Bis zu einem gewissen Grad stimmt das ja auch. Entscheiden wir Eltern uns dafür, unsere Kinder in den ersten Jahren für mehr als ein paar Stunden abends und am Wochenende zu betreuen, bleibt tatsächlich weniger Zeit und Energie für den Beruf. Doch dort sollen Eltern möglichst so effizient und leistungsfähig bleiben wie Kinderlose. Die heutige Familienpolitik bietet hierfür vor allem eine Lösung: die frühe institutionelle Betreuung unserer Jüngsten. Provokant gesagt: die Gesellschaft schafft ihre Jüngsten aus dem Weg, damit sich ihre Eltern der momentan einzigen als wirtschaftlich relevant angesehenen Arbeit widmen können – ihrer Erwerbstätigkeit.
Das falsche Signal an Familien
Schulen und Kindergärten sind inzwischen wieder geöffnet. Aber statt die dort bestehenden Strukturen und räumlichen Gegebenheiten zu hinterfragen, Klassen zu verkleinern und neue Formen des Unterrichts zu schaffen, sollen die Jüngsten unserer Gesellschaft jetzt durch ihr Verhalten diejenigen schützen, die sich davor im besten Fall zögernd für ihre Interessen eingesetzt haben. Dicht gedrängt in zu kleinen Klassenräumen und zu großen Lerngruppen sollen sie in mehreren Bundesländern über Stunden Mund-Nasen-Masken tragen, im Kindergarten fällt seit Wochen aus Infektionsschutzgründen der Turnunterricht aus und im öffentlichen Raum sollen sich Kinder möglichst nur in klar definierten Bereichen bewegen. Auf dem für sie offiziell vorgesehenen Spielplatz ja, auf den neu errichteten, weitaus weitläufigeren „Trainingsanlagen“ der Erwachsenen keineswegs.
Welches Signal geben politische Entscheider/innen damit an Familien und an Kinder als die vielbeschworene „Zukunft unserer Gesellschaft“? Wenn es wirklich hart auf hart kommt, interessieren uns eure Bedürfnisse nach (kindgerechter) Teilhabe an der Gesellschaft, nach Förderung und Schutz herzlich wenig. Aber sobald wir eure Kooperation brauchen, fordern wir diese durch rigide Gesetzgebung ein, zwingen euch bereitwillig Dinge auf, die wir Erwachsenen größtenteils aktuell gar nicht auf uns nehmen und die viele vermutlich gar nicht zu tragen bereit wären.
Wer entscheidet über das Leben unserer Kinder?
Könnte dies damit zusammenhängen, dass ein Großteil der Entscheidungen, die momentan das Leben unserer Kindern bestimmen, gar nicht von denjenigen getroffen wird, die wissen, was diese wirklich brauchen? Oder die dies eventuell gar nicht interessiert? Statt Eltern, Erzieherinnen und Erzieher oder Lehrerinnen aus der Praxis zu Wort kommen zu lassen, finden offenbar allzu oft Menschen bei den politischen Entscheider/innen Gehör, denen Erziehungs-, Bildungs- und Fürsorgearbeit vor allem aus Studien, Forschungsarbeiten und somit letztlich aus der Theorie bekannt ist. Während des Corona-Lockdowns haben vor allem männliche Forscher und Mediziner die öffentliche Meinung geprägt. Viele Politikerinnen und Politiker im Bundestag sind zudem längst der aktiven Kinderbetreuung entwachsen (insofern sie sie denn jemals übernommen haben).
Meiner Meinung nach ist es höchste Zeit, dass wir uns fragen, was unsere Kinder, also diejenigen, die unsere Gesellschaft in Zukunft gestalten werden, wirklich brauchen, statt sie vor allem in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit und wirtschaftliche Relevanz hin zu betrachten. Sonst könnten sie denjenigen, die heute die Entscheidungen treffen, in ein paar Jahren, wenn diese gebrechlich und auf die Fürsorge der heute Jungen angewiesen sind, sagen, was sie selbst aktuell vermittelt bekommen: du bist relevant, solange du von wirtschaftlicher Bedeutung bist. Falls nicht (mehr), sieh zu, wie du klarkommst. Dein Wohl interessiert mich nicht.
Herzliche, sehr nachdenkliche Grüße
Sarah (mutter-und-sohn.blog)
Die Autorin ist Lehrerin, Autorin und Mutter eines Kindergartenkindes. In ihrem Blog mutter-und-sohn.blog schreibt sie über den Alltag als getrennt erziehende Mutter, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und immer wieder auch über aktuelle (Familien-) Politik.
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[Fotos: Titelbild privat; Beitragsbild Pixabay]
Ergänzend zum Artikel: Für alle, die momentan entmutigt fragen, wie sollte man Schule denn anders gestalten außer digital und von zuhause aus oder andererseits mit Mundschutz und strenger Disziplin vor Ort?…
Zwei Dinge haben mich in dem Artikel zu Schule in Neuseeland besonders berührt: 1) das Vertrauen, das hier Schüler/innen wie Lehrer/innen entgegengebracht wird und 2) der Satz: „Eine gerechte Gesellschaft entsteht nicht dadurch, dass man alle gleich behandelt, sondern indem man die gleichen Voraussetzungen für alle schafft“. Ein Augenöffner!
https://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2019-12/bildung-neuseeland-schulen-lehrer-kinder-lernen
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Ein weiterer Aspekt der mich als Papa neben Politik und Finanzen immer wieder ärgert, ist die mangelnde Haltung und Toleranz anderer Mitmenschen den Kindern bzw. Familien gegenüber. Wer einmal mit ein paar Kids den öffentlichen Nahverkehr einer Großstadt nutzen „musste“, weiß was ich meine. Da kann ich sonst noch so viel zur Ruhe aufrufen oder ihren Bewegungsdrang in Schach halten wollen. Es wird lauter, da werden aus Versehen Füße getreten und irgendein Hosenbein kriegt vielleicht auch etwas ab. Tschuldigung. Sorry. Tut mir Leid. Mein Blutdruck steigt.
Das aber irgendwer die Bank freimacht und sagt „kommt Jungs, setzt euch hierher, genießt die Fahrt durch die Stadt“ käme einem Wunder gleich.
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Da fällt mir ein Zitat ein, das ich gerade gelesen habe: „Der Umgang mit Kindern fordert nicht Logik, sondern Vernunft.“ (George B. Shaw). Ich würde ergänzen: „sowie ein lernbereites Herz und Mitgefühl“. Qualitäten, die allerdings nicht nur im Umgang mit Kindern hilfreich sein dürften.
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Sehr gut, danke.
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Hallo Sarah,
was du schreibst, ist eine traurige Wahrheit, die ich genauso wahrnehme wie du. Ich finde, es wird dringend Zeit, dass endlich etwas für #CoronaEltern und #CoronaKinder unternommen in dieser Gesellschaft.
Aber ich fürchte, wenn es hart auf hart kommt – und die Zahlen steigen ja aktuell wieder, dann werden die nötigen Einschränkungen wieder zu Lasten von Kindern und deren Eltern sein…
Liebe Grüße,
Jenni
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