Familie

Radikal inkonsequent: Was wir von Vierjährigen lernen können

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Neben meiner Arbeit als Lehrerin, Bloggerin und Autorin bin ich ja – gefühlt zu mindestens 60% – Mama. Und ich bleibe dabei: auch knapp fünf Jahre nach Eintritt in diesen ganz besonderen „Zustand“ versetzt er mich regelmäßig in Erstaunen. Eine Mischung aus: „Dass das möglich ist!“ und: „Hätte ich nicht (von mir) gedacht“.

Ich hätte vor dem Mutterwerden z.B. nicht gedacht, dass ich mir einmal ohne nennenswerten Protest beim Klogang zusehen lassen würde, mich über ein im tiefsten Tiefschlaf ruhendes Kind beugen und mit klopfendem Herzen kontrollieren würde: „Atmet es noch?“ Dass ich mir besorgt klarer verständliche Sätze wünschen würde und wenige Monate später entnervt weniger – äußerst klar verständliches – Geplapper. Dass Liebe und Wut so dicht beieinander stehen könnten, sowohl auf Kindes-, als auch auf Elternseite. Und dass ich tatsächlich mal stolz sagen würde: „Das hat er von mir!“

Mindestens so sehr, wie wir unsere Kinder „erziehen“, erziehen sie meiner Meinung nach uns. Wir überbieten einfach keinen Vierjährigen in seiner Radikalität, mit der er sich weigert, diese „fusselnden Kacksocken“ anzuziehen, ebensowenig wie in der Hingabe, mit der er den Regenwurm im Blumenbeet betrachtet, seine Stofftiere mit Knet-Pizza verköstigt oder die höchsten Türme baut. Dann kommt wieder der Sturm der Wut, wenn das oberste Klötzchen des Turms nicht hält und wir fragen uns: wo kommen all diese Gefühle her?

Auch wir Erwachsenen sind radikal und inkonsequent

Ach, wir selbst tragen diese Gefühle doch auch in uns. Nur eben (meist) kanalisiert. Aber haben z.B. die letzten Wochen und Monate nicht allzu deutlich gezeigt, wieviel Radikalität auch in uns Erwachsenen schlummert? Mit ähnlicher Hingabe haben wir uns die Köpfe heiß geredet, was nun der „richtige“ Weg sei, welche Strategie möglichst viele Leben retten oder einfach nur einen Teil unseres Alltags. Manche haben gehamstert als gebe es kein Morgen (schauen wir einem Vierjährigen zu, wie er seine Schokobons hortet!…), andere wirkten so verängstigt, dass man sich fragen konnte, wie haben sie nur bisher die Risiken des Lebens bewältigt? Und wiederum andere verhielten sich so sorglos wie kopflos, dass sie eigentlich keinem Kind mehr sagen dürften: „Sei doch vernünftig!“

Ja, wir Erwachsenen sind auch alles andere als vernünftig, besonnen und konsequent, wenn es um unsere Belange geht. Da fragte manches Kind zurecht erstaunt: „Warum trägt der Mann einen Mundschutz, aber wäscht sich nicht die Hände nach dem Klo?“ „Warum raucht Papa, wenn es doch ungesund ist?“ „Warum soll ich Kohlrabi essen, du isst aber keinen Spargel?“

Die Klarsicht der „Kleinen“

Bloß, weil sie kleiner sind, heißt das nicht, dass unsere „Kleinen“ nicht klarsichtig sein können. Zuweilen klarsichtiger als wir selbst. „Tut das dem Hund nicht weh?“, höre ich ein Kind fragen mit Blick auf einen Passanten, der sein Tier am Halsband hinter sich herzieht. „Ja, tut es.“ „Warum macht er es dann?“ Was sagst du in diesem Moment? Weil er keine Zeit hat? Weil er ein doofer Mensch ist, der sich ein Tier angeschafft hat, ohne der Verantwortung dafür gerecht werden zu können? Weil wir diesen Menschen vielleicht nur zufällig in einem Moment der Schwäche erleben – so wie auch wir manchmal unsere Kinder entnervt hinter uns herziehen, sie anschnauzen oder ihnen eine „Überraschung“ versprechen, bloß, damit sie sich endlich vom Fleck bewegen?

Der Punkt ist klar, denke ich: Wir sind sicher nicht besser oder gar perfekter als unsere Kinder – wir haben nur gelernt, unsere Schwächen besser zu verbergen.

Wir sind für unsere Kinder die Welt

Zugleich erleben wir als Eltern den geradezu atemberaubenden Zustand, dass da auf einmal ein Wesen ist, ein anderer, für sich existierender Mensch, der uns tatsächlich – zumindest phasenweise – für absolut perfekt hält. Dem wir alles sind. Die Welt sozusagen, im Guten wie im Schlechten. Wären wir prügelnde Eltern, wären die Prügel das, was unser Kind mit Elternliebe verbindet. Sind wir liebevolle oder wechselnd liebevolle und bedrohliche Eltern wird auch das zu seinem Bild von „Liebe“. Gerade in den ersten Jahren seines Lebens zweifelt es kaum an, dass unsere ganz persönlichen Marotten, Gewohnheiten und Urteile das sind, was die Welt ausmacht. Wir sind seine Welt. Unsere eigenen Wertvorstellungen, unsere Schwächen wie Stärken prägen das Weltbild unseres Kindes maßgeblich mit.

Aber bevor wir ob dieser Verantwortung verzweifeln oder uns in vermeintlich wertvolle „Pedagogical Correctness“ flüchten, möchte ich darauf hinweisen, dass unser Kind durch uns die Welt auch in seiner ganzen Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit kennenlernen darf. Unter der Voraussetzung, dass wir es weder bewusst misshandeln noch aus egoistischen Gründen für unsere Interessen missbrauchen, darf es das lernen, was meiner Meinung nach für einen Menschen wirklich wertvoll ist: Ich bin wie ich bin – und es ist gut, wie ich bin.

Vorleben statt erziehen

Auch das leben wir unseren Kindern vor. Oder wir versäumen eben, es ihnen vorzuleben. Wenn ich ständig über meinen unmöglichen Chef klage, aber mir keine neue Stelle suche, wird mein Kind auf lange Sicht vermutlich lernen, dass es gut ist, andere zu bewerten und dabei in der eigenen Hilflosigkeit zu verharren. Schimpfe ich aber lautstark über eine Situation und handle selbst entgegengesetzt, lernt es vermutlich, dass es sich lohnt, inneren Werten zu folgen und keinem schadet, dabei auch seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen.

Nicht vergessen sollten wir „großen“ pädagogisch versierten Erwachsenen meiner Meinung nach dabei, dass wir die besten Absichten haben können – was davon letztlich bei unseren Kindern ankommt, welche Schlüsse sie tatsächlich aus unserem Verhalten ziehen, liegt nicht, oder nur zu einem geringen Grad, in unserer Hand. Ein elterlicher Wutausbruch, der das eine Kind tief beeindrucken mag, es womöglich an sich oder gar an der Liebe der Eltern zweifeln lässt, mag ein anderes Kind, je nach Situation und Naturell, erstaunlich kalt lassen. Umgekehrt können vermutlich wir Erwachsenen fast alle noch mindestens einen Elternsatz zitieren, der sich tief in uns verankert hat, zu unserer ganz persönlichen „Wahrheit“ und einem Glaubenssatz über die Welt oder über uns selbst geworden ist. Im Positiven wie im Negativen.

Verbundenheit, ein Leben lang

So wie wir in dieser Weise unser Leben lang, oft über den Tod von Vater oder Mutter hinaus, mit unseren Eltern verbunden sind, so werden auch unsere Kinder mit uns verbunden bleiben. Wir prägen sie. Aber sie prägen auch uns.

Um zum Ausgangspunkt dieses Beitrags zurückzukehren: meiner Meinung nach kann es hilfreich sein, wenn wir uns bei diesem Prozess der (wechselseitigen) Prägung unserer eigenen Radikalität und Inkonsequenz, unserer Fehlbarkeit und Schwäche möglichst bewusst werden – und sie eben nicht unreflektiert an unsere Kinder weitergeben. Wenn wir uns aber auch unserer Stärken bewusst werden und uns öffnen für die Möglichkeit, die aus echter Begegnung erwächst. Auch insofern können wir meiner Meinung nach von unseren Kindern viel lernen. Diese halten sich, zumindest in den ersten Lebensjahren, noch nicht zurück, bewerten anfangs weder sich noch andere. Sie leben einfach, mit ihrem ganzen So-Sein, ohne Wertung und Beschränkung.

Sich echt und aufrichtig begegnen

Dass wir unseren Kindern dann – auch angesichts ihrer Eigenschaften, die wir als anstrengend und herausfordernd empfinden – nicht das Gefühl geben, sie seien „falsch“; andererseits aber auch nicht leugnen, dass wir uns angestrengt fühlen, ermöglicht meiner Meinung nach genau diese aufrichtige Begegnung. Ich sehe es als den Balanceakt, den wir Eltern täglich gehen dürfen. Wir dürfen jeden Tag echter und stimmiger werden, in uns selbst und unseren Kindern gegenüber. Das ist meiner Meinung nach die beste (gegenseitige) „Erziehung“ – und der Weg in ein wirklich erfülltes, für beide Seiten gutes, Leben miteinander.

Wie seht ihr das?

  • Was ist euch wichtig im Zusammenleben mit euren Kindern?
  • Was lernt ihr von ihnen und was versucht ihr ihnen mitzugeben?
  • Was tragt ihr selbst noch aus dem Zusammenleben mit euren Eltern in euch?

Ich freue mich wie immer über eure Kommentare!:-)

Herzlichen Gruß, Sarah

[Foto: Pixabay]

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5 Gedanken zu „Radikal inkonsequent: Was wir von Vierjährigen lernen können“

  1. Wo fange ich an, viele Gedanken wandern nach nochmaligem Durchlesen deines Beitrages durch meinen Kopf, auch all die Postings zum Thema, die ich mal geschrieben habe.
    Ich bin Erzieher und Fotograf, ich schreibe es, weil beide Berufe mit dem Spiegeln von Dingen, Situation, Momenten, Gefühlen, Eindrücken zu tun haben.
    Das wichtigste Gefühl, welches Eltern Kindern spiegeln können, ist Geborgenheit, ein wie ich finde wunderbares Wort. Andererseits geben uns die Kinder Geborgenheit zurück, gerade in dem Fall, wenn es den eigenen Eltern nicht möglich war Geborgenheit in einem ausreichenden Maße zu vermitteln, sie spiegeln uns unser Verhalten.
    Das Schöne am Kind sein ist, dass wir die Welt für eine sehr (viel zu) kurze Zeit fast wertfrei betrachten und viele Dinge erfinden, entdecken. Als Eltern dürfen wir diesen Zustand so lang wie möglich erhalten wollen, aber es ist uns oft, aus sehr vielen Gründen, nicht möglich.
    Wenn von Erziehung die Rede ist, einem sehr bedeutungsreichen Begriff, geht es oft um das Lernen, Erlernen. Lernen hat einen hohen Stellenwert, als Gesellschaft haben wir uns Wertmaßstäbe gesetzt, Bewertungsskalen entwickelt, wie wir das Erlernte beurteilen und zu bewerten haben. Das setzt die Eltern und in der Folge ebenfalls die Kinder unter eine Art Erfolgsdruck, so las ich es Teils aus den Corona-Diskursen um Schule und Bildung heraus.
    Ich denke, es gab Kinder, die haben die Zeit genossen mit ihren Eltern, haben neue Erfahrungen gemacht, genauso wird es gegenteilige Fälle gegeben haben. Lernraum ist das Leben, nicht nur Schule oder Kita.
    Viele Dinge des Lebens durfte ich am Bachlauf oder im Wäldchen lernen, mit all den anderen Kindern, ohne Erwachsene.
    Ich denke, wir Eltern dürfen für unsere Kinder die Basis sein, ein sicherer Ort, der Liebe und Geborgenheit vermittelt. So können sie ausziehen, hinaus in die sich immer weiter öffnende Welt und ihre kleinen Abenteuer und Erfahrungen machen und das Schöne dabei, sie lernen mit und für sich.
    Dieses bedeutet für uns Eltern, die Sicherungsleine, welche wir in unseren Köpfen haben, immer länger werden zu lassen. Etwas später, spätestens in der Pubertät, sind wir dann eine Art Raketenplattform, eine Betonplatte, die der Rakete den nötigen Schub gibt, die aber auch ziemlich viel Feuer abbekommt.
    Wir verlangen von unseren Kindern sehr oft, sie sollten sich doch einmal reflektieren, ihr Verhalten ändern. Die Möglichkeit, unser erwachsenes Leben zu reflektieren besteht für uns erwachsene Eltern zu jeder Zeit. Wenn ich die Auswirkungen, zum Beispiel beim Klima, betrachte, dürften wir viel zu reflektieren haben, auch jetzt, wo wir möglicherweise den Sommerurlaub versuchen irgendwie zu planen. Somit ist meine Teilantwort auf die Frage, was wir unseren Kindern mitgeben könnten, in jedem Fall: eine lebenswerte Welt. Wir dürfen ihnen Dinge vorleben, wie wir sie lebenswert erhalten, im Miteinander als Gesellschaft, und in der Erhaltung unseres Lebensraums.

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  2. Hallo Aquasdemarco,
    vielen Dank für deinen durchdachten und detaillierten Kommentar. Besonders gut gefällt mir dein Satz: „Wir verlangen von unseren Kindern sehr oft, sie sollten sich doch einmal reflektieren, ihr Verhalten ändern. Die Möglichkeit, unser erwachsenes Leben zu reflektieren besteht für uns erwachsene Eltern zu jeder Zeit“. Ich denke, daran ist viel Wahres: bevor wir versuchen, unsere Kinder zu ändern, können wir uns fragen, auf was an uns sie reagieren.
    Bei deinem Bild der Eltern als „Raketenplattform“, die das Feuer ihrer pupertierenden Kinder abbekommt, musste ich zudem lachen! Soweit sind wir hier mit unserem Vierjährigen ja noch lange nicht, aber ich stelle mich schon mal seelisch drauf ein…;-) Herzlichen Gruß, Sarah

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