
Eigentlich gemütlich: Freitag, 24.4.2020, 12 Uhr. Mein Sohn hält Mittagsschlaf, ich sitze in der Küche und bastle nach YouTube-Anleitung meine erste Mund-Nasen-„Community-Maske“, damit ich ab nächstem Montag weiter unseren Supermarkt um die Ecke betreten darf. Ab 27.4. 2020 gilt auch in NRW „Maskenpflicht“. Ach ja, und nebenbei streike ich für bessere Klimapolitik.
#NetzstreikFürsKlima: Nach Aussage der Veranstalter haben sich deutschlandweit 87.000 Menschen zu der Online-Demo angemeldet. Kleine grüne Pins auf einer Karte der Website zeigen, wo. Die eigentliche Klimademo soll im Netz live übertragen werden. Nun gut, die ersten dreißig Minuten passiert, zumindest auf meinem Handy, nicht viel: Technische Störung. Der Hinweis dazu kämpferisch: „Wir sind gleich zurück. Aber dieser Stream läuft immer noch besser als die Klimapolitik der GroKo.“
Als die Liveübertragung nach einer halben Stunde endlich steht (inzwischen habe ich einen weiteren Mund-Nasen-Schutz fertiggestellt), erscheinen einzelne junge Menschen im Bild. Der Sprecher mit einer Papptafel in der Hand (#Fridaysforfuture), die Mitdemonstrant*innen brav im 2m-Abstand, mit Mundschutz vor dem Gesicht. Wirkt irgendwie freundlich. Nach fünfzehn Minuten eine Musikeinlage, netter Deutschrap anderer junger Leute: „Wir müssen handeln… seht, die Raupe erhebt sich als Schmetterling“. Einblendungen von Schülerinnen und Schülern, die mit Papp-Plakaten im Gras sitzen. Entspannt und gut gelaunt, diese Demo. Ich bleibe dran.
Die „GroKo“ und der Klima-Streik
Ohnehin, die zuvor geschmähte „Große Koalition“ wird sicher aufmerksam verfolgen, was die 20 Engagierten vor dem Bundestag (mehr erlaubt das Ordnungsamt nicht) so tun, natürlich im Bewusstsein, dass Tausende am Küchentisch mitdemonstrieren. Vermutlich wird sie hier ähnlich aufmerksam hinhören und -lesen wie bei den Hunderten Online-Petitionen, Brandbriefen und kritischen Debatten im Netz, z.B. zur weiterhin ausbleibenden Kinderbetreuung für Familien für im Homeoffice rotierende Eltern. Immerhin darf inzwischen ja in fast allen Läden wieder konsumiert werden. Da gibt’s für die Kleinsten neues Spielzeug. Ein Trost.
Ich konzentriere mich wieder auf die Darbietung – äh, Demo – im Netz. Jetzt trägt eine junge Frau mit Inbrunst ein Gedicht vor. Etwas von einem Mädchen, das den Schnee im Winter vermisst. Obwohl mir auch hier der Gedanke durch den Kopf schießt „Ob sich Merkel oder Söder wohl für Slam-Poetry begeistern?“, ergreift mich nach einigen Versen die Ernsthaftigkeit, mit der die junge Frau spricht. Sie berichtet, dass ihr jeder rate, erwachsen zu werden, bevor sie ihre Welt mitgestalten dürfe und davon, dass sie sich Beteiligung wünscht an den Entscheidungen, die ihre Zukunft betreffen. Mehr ihre Zukunft als die der nach eigener Ansicht „erwachsenen“ Vertreter.
Wer hört uns eigentlich zu?
Unvermittelt denke ich an mein Gefühl der letzten Wochen als Bürgerin dieses Landes, als berufstätige Mutter eines kleinen Sohnes. Wie oft wurde uns gesagt, was wir zu tun hätten – und wie oft wird es das immer noch – von Menschen, die oft nicht besser als wir wissen, was wirklich sinnvoll ist. „Fahren auf Sicht“, „Alternativlosigkeit“ – Metaphern, die verdecken, dass mancher in der politischen Riege, mancher Experte und überhaupt Menschen, die den Raum bekommen, ihre Meinung in breiter Öffentlichkeit kund zu tun, auch nicht recht wissen, was zu tun ist. Leider behaupten viele nur allzu oft das Gegenteil.
Mein Sohn wacht auf, ich muss die Demo verlassen.
Mein Mundschutz liegt zum Tragen bereit. Eigentlich ganz nett, diese Bastelvideos auf Youtube. Gestern Regenbogenfensterbilder (#Stayathome), morgen vielleicht Tutorials für die regelkonforme Nutzung der Corona-Tracking-App, mit der die Bundesregierung in naher Zukunft unsere Sozialkontakte überwachen wird?
Das neue Biedermeier?
Irgendwie Biedermeier gerade. Die Welt dreht sich so schnell, dass uns schwindlig wird. Da studieren wir doch lieber die Nähanleitung als das Grundgesetz. Konzentrieren uns auf den engsten Kreis unserer Familie, als auf ferne „Andere“, die unser Land ohnehin nicht betreten dürfen. Fahren lieber mit dem Auto als mit Bus und Bahn zum nächsten Laden („sicherer in diesen Zeiten“), fordern womöglich „Impf-, App- und Maskenpflicht“ und lächeln über die Ernsthaftigkeit dieser Jugend, die partout darauf besteht, dass es Themen geben könnte, die wichtiger sind als Corona.
Herzliche, sehr nachdenkliche Grüße!
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[Fotos: Bild 1 Wikipedia Common; Bild 2 Screenshot des Livestreams der #NetzstreikFürsKlima-Demonstration]
Ein Gedanke zu „Das neue Biedermeier: #NetzstreikFürsKlima und Masken-Bastelkurse“