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„Anstrengungs-Verweigerung“? Warum es sich lohnt, unseren Kindern zu vertrauen

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Vor kurzem habe ich einen sehr interessanten Blogartikel gelesen. Das Thema: „Anstrengungsverweigerung“. 

Ehrlich gesagt konnte ich mir erst gar nicht wirklich etwas unter dem Begriff vorstellen. In ihrem Artikel beschreibt Bloggerin Charlotte eine Situation, in der ihre Tochter, anstatt – wie wohl als Teil des Mathematikunterrichts erwünscht – die Stufen einer Schultreppe zu zählen, ihre Lehrerin in ein angeregtes Gespräch verwickelte, um damit eben, wie die Autorin schlussfolgert, die Anstrengung der gestellten Aufgabe zu vermeiden. Ihr Charme habe die Lehrerin auch erfolgreich in die Irre geführt – jedenfalls habe sie die Aufgabe nicht lösen müssen, der Lehrerin sei aber gar nicht aufgefallen, dass ihre offensichtlich liebenswerte Schülerin auf diese Weise die Anstrengung umgangen sei. Den kompletten Artikel findet ihr hier. 

Meine Mit-Bloggerin reflektiert in ihren Texten, wie ich finde, sehr liebevoll und wertschätzend das Leben mit ihren (Adoptiv-) Kindern. Umso mehr verblüfft mich ihre Schlussfolgerung an dieser Stelle und vor allem, wie sie auf das Verhalten ihrer Tochter reagiert. 

In einem weiteren Artikel geht sie auf mögliche Ursachen der „Anstrengungsverweigerung“ ein. Wenn ich meine Mit-Bloggerin richtig verstehe, handelt es sich dabei um eine tiefgehende Störung des Selbstvertrauens. Kinder, die bereits sehr früh, z.B. wegen der Trennung von ihren Eltern oder aufgrund von Verwahrlosung, die Erfahrung hätten machen müssen, dass ihre Grundbedürfnisse (Nahrung, Schlaf, körperliche Nähe) nicht erfüllt worden seien, hätten dadurch gelernt, dass ihr Bemühen, durch Weinen die Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu bekommen um z.B. gefüttert zu werden, sinnlos sei. Als Konsequenz habe sich in ihnen ein grundlegendes Gefühl von Hilflosigkeit verfestigt: die Wahrnehmung, selbst nichts an ihrer Situation ändern zu können und es daher letztlich auch gar nicht mehr versuchen zu müssen. Meine Mit-Bloggerin schließt daraus, das solcherart traumatisierte Kinder später auch in anderen Bereichen dazu tendierten aus der tief verwurzelten Angst, „es ja doch nicht zu schaffen“ gar nicht erst zu versuchen, ein Ziel zu erreichen, sondern die dafür erforderliche Anstrengung von vornherein vermieden. 

Aufschieben zur Selbstentlastung

Ich finde diese Erklärung durchaus plausibel und habe selbst schon bei Menschen, die als Kind ähnlich traumatisierenden Lebensumständen ausgesetzt waren, dieses Verhalten wahrgenommen. In der Sozialpsychologie wird hierbei von der Strategie der Misserfolgsvermeidung vs. der Erfolgssuche angesichts äußerer Belastung gesprochen. Auch das Phänomen, unangenehmen Aufgaben ein Stück weit auszuweichen, kennt wohl fast jeder – es hat inzwischen ja sogar einen Namen: die Prokrastination…

Erst einmal mit der besten Freundin einen Schwatz zu halten, die Mikrowelle zu reinigen und den Kühlschrank aufzuräumen, bevor wir uns an das Verfassen der Steuererklärung setzen, gestehen wir Erwachsenen uns durchaus zu. Solange dieses Ausweichverhalten angesichts ungeliebter Aufgaben nicht überhand nimmt, haben wir dafür sogar Verständnis. Letztlich ist es schlicht eine Form der Selbstentlastung. Wir wissen, wir müssen etwas tun, fühlen uns momentan der Aufgabe jedoch nicht gewachsen – und weichen aus. Anstrengungsvermeidung eben…

Druck, um Angst vor Druck zu lösen?

Umso überraschender fand ich die Reaktion meiner Mit-Bloggerin auf das Verhalten ihrer Tochter. Sie berichtet, wie sie darauf bestehe, dass eine Aufgabe genau zu dem von ihr genannten Zeitpunkt zu machen sei. Im Notfall blieben sie eben so lange am Schreibtisch sitzen, bis die Aufgabe erledigt sei. In einem weiteren Artikel (Homeschooling für traumatisierte Kinder) beschreibt sie sogar, dass ihr Sohn während stundenlangen Übens nach der Schule massive Wutanfälle bekomme: 

Meinte Sohn brüllt herum, schreit, schlägt um sich, manchmal wirft er seinen Stuhl um. Am Ende verfällt er meist einfach nur noch in ein verzweifeltes Weinen, aus dem er sich erst nach über einer Stunde wieder beruhigt. Erst dann können wir weiter arbeiten. Vielleicht…

Ganz offensichtlich sträubt sich etwas massiv in ihm, die gestellte Aufgabe zu genau diesem Zeitpunkt zu erfüllen – obwohl er grundsätzlich durchaus in der Lage ist, sie zu lösen. Ohne äußeren Druck tue er das auch, wie meine Mitbloggerin beschreibt. 

Aber warum besteht die Autorin dann genau in diesem Moment auf ihrer Forderung? Verfestigt sie dadurch nicht gerade das Gefühl ihres Sohnes, der Übermacht der Erwachsenen nichts entgegenzusetzen zu haben? Dass seine Bedürfnisse letztlich nicht zählen? Wir Erwachsenen würden uns nach einem langen Arbeitstag sicher auch lieber der Entspannung widmen, als uns mit Themen, die uns ohnehin Angst einjagen, zu konfrontieren. Warum gestehen wir unseren Kindern diese Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und auch Selbstfürsorge oft gar nicht zu? Sind Kinder „junge Wilde“, die – notfalls mit Zwang – dazu genötigt werden müssen, sich sozialkompatibel zu verhalten? Oder noch subtiler: meinen wir, sie vor sich selbst schützen zu müssen? 

Warum gehen wir so leicht davon aus, dass unsere Maßstäbe (z.B. gute schulische Leistungen) die richtigen sind und der Weg, den wir für unsere Kinder vorsehen, tatsächlich der ist, der sie glücklich macht? Wieviel Freiheit geben wir unseren Kindern, auch gerade, wenn sie nicht unserem Weg folgen? Wenn wir am liebsten ändern wollten, was sie in sich tragen? Das ist für mich als Mutter eine sehr wichtige Frage.

Was mein Sohn mich lehrt…

Abschließend möchte ich eine Situation skizzieren, in der ich selbst – wieder einmal – viel von meinem Sohn gelernt habe: Nach einem langen Arbeits – und Kindergartentag waren wir beide erschöpft. Mein Sohn (3) fing an, mit hundert Dingen zu spielen (Eisenbahn, Puzzle, Spielzeugautos, Bilderbücher etc.), konnte sich aber auf nichts mehr wirklich konzentrieren. Innerhalb kürzester Zeit sah sein Kinderzimmer aus, als sei dort eine Bombe eingeschlagen: überall verstreut lag sein Spielzeug, dazwischen Kleidungsstücke, die er aus irgendeinem Grund aus dem Schrank geräumt hatte. Da es auf sieben Uhr zuging hatten wir beide Hunger. Ich hatte aber noch nichts zum Abendessen vorbereitet. Gereizt bat ich meinen Sohn, zumindest einen Teil des Spielzeugs in die dafür vorgesehene Kiste zu räumen, während ich uns etwas kochte. Seine Antwort rundheraus: „Nö. Du, Mami!“ Sekundenlang schossen mir Gedanken durch den Kopf wie: „Unmöglich, kaum drei, benimmt sich mein Sohn wie ein kleiner Pascha!“ oder auch: „Das kann ich ihm jetzt nicht durchgehen lassen, sonst hilft er beim nächsten Mal erst recht nicht mit!…“ Müde wie ich war und nachdem ich davor, länger als ich eigentlich Lust hatte, mit ihm gespielt hatte, fühlte ich sogar, wie einen Moment lang der Gedanke in mir aufstieg: „Unmöglich – wie undankbar!“

Zum Glück atmete ich dann tief durch, schnappte mir meinen kleinen Halunken und erklärte ihm in ruhigem Ton, ich sei müde, er habe das ganze Spielzeug aus dem Schrank geräumt und ich habe keine Lust, es jetzt aufzuräumen, da ich auch noch das Abendessen machen müsse. Ob er eine Idee habe, was wir da tun könnten? Seine Antwort verblüffte mich. „Klar, Mama!“ Eben noch voller Widerstand, strahlte er mich auf einmal an: „Ich mache das Abendessen für uns!“

Tja, und das tat er dann… An diesem Abend gab es für uns beide jeweils eine große Schüssel Müsli mit frischem Saft. Schälchen, Becher, Besteck, Milch und Getränke holte mein Großer mit seinen gerade 3 völlig eigenständig aus Kühlschrank und Regalen und deckte den Tisch für uns – während ich sein Zimmer aufräumte. Wenig später saßen wir tatsächlich beim Abendessen, beide sehr zufrieden – und ich hatte wieder einmal etwas gelernt: 

Mein Weg ist nicht der einzig mögliche. 

Und: 

Willst du, dass deine Kinder ihre Probleme selbst lösen, schenke ihnen das Vertrauen, sie es auf ihre Weise machen zu lassen!

Herzlichen Gruß, Sunnybee

PS. Ganz herzlichen Dank an Charlotte für deine inspirierenden Beiträge. Ich hoffe, du fühlst dich von meiner kritischen Auseinandersetzung mit deinen Artikeln nicht angegriffen! Wie immer freue ich mich über Reaktionen und Kommentare! 🙂

6 Gedanken zu „„Anstrengungs-Verweigerung“? Warum es sich lohnt, unseren Kindern zu vertrauen“

  1. Ich habe den gleichen Blick wie Du: Ich gehe meines Erachtens noch ein Schritt weiter und in den Dialog mit unserem Hund. Allerdings gibt es auch die (hier nonverbale) Kommunikation mit dem Inhalt “Du kannst mich mal.” Und da werde ich tatsächlich übergriffig und verordne ein Sitz. Man könnte es Zwangsmeditation nennen. Damit klar wird: “mit dieser a-sozialen Wahl isolierst Du Dich. Zumindest von mir und ich habe Werte, die Du gerade verletzt hast.” Es dauert mitunter sehr lang eine Wirkung zu beobachten aber Geduld zu üben ist immer eine sehr wertvolle Übung. Meine Meinung. Danke für Deinen inspirierenden Beitrag.

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    1. Lieber Tilman, habe gerade deinen Kommentar gelesen und bin nicht ganz sicher: ironisch gemeint?! Dass Kinder keine Hunde sind, die vom „Leitwolf“ Befehle erwarten, dürfte klar sein, oder? Dass andererseits auch Kinder erleichtert sein dürften, wenn ihre Bezugspersonen (meist) konsequent und dadurch berechenbar sind, finde ich auch gut nachvollziehbar. Wie meine Mit-Bloggerin mit ihren beiden adoptierten Kindern umgeht, die Erwachsene wohl in ihrer frühsten Kindheit gerade als unberechenbar – und dadurch bedrohlich – erleben mussten, finde ich bewundernswert, auch wenn mir ihre Konsequenz, wie sie sie in ihren Artikeln beschreibt, eben als manchmal recht hart erscheint. Charlottes eigener Kommentar (s.u.) zum Thema ist in diesem Zusammenhang sicher lesenswert! Viele Grüße an dich wie Hund! 😉 Sunnybee

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    2. Ich gestehe, dass ich mir beim Schreiben selbst nicht sicher war. Aber ich meine es ernst. Der Vergleich zielt darauf ab, ein Mindestmaß an sozialem Miteinander sicherzustellen. Und da kann Sprache manchmal zu komplex sein. Deine Auseinandersetzung, die Du beschreibst benötigt aus meiner Sicht eine entwickelte, soziale Kompetenz beim Kind die einen „Deal“ überhaupt möglich macht. Klar sind wir stolz, wenn unser Kind schon so fit ist. Das dürfen wir mE auch sein. Das ist aber nicht immer gegeben und manchmal geht es darum einen wichtigen Wert zu vermitteln und den Bruch der daraus entsteht stehen und wirken zu lassen. Ansonsten…

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    3. Lieber Tilman, danke auch für diesen Kommentar. Vielleicht schreibe ich bei Gelegenheit einen weiteren Artikel zu dem Thema, mir fällt gerade noch einiges dazu ein, etwas zuviel für die Kommentarspalte… 😉 Lieben Gruß und freue mich, dass du meine Artikel mitliest! Sunnybee

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  2. Liebe Sunnybee,

    hab Dank für die kritische Auseinandersetzung mit meinen Beiträgen zur Anstrengungsverweigerung. Das ist spannend. Und es zeigt mir und bestätigt mich darin, wo die Anstrengungsverweigerung für viele schwer zu verstehen ist. Als ich begann, mich damit auseinanderzusetzen, ging es mir ähnlich wie Dir. Als ich Bettina Bonus zum ersten Mal begegnete, habe ich gedacht, dass sei alles maßlos übertrieben. Ein paar Jahre später muss ich eingestehen, dass es „leider“ so ist, und es eines sehr liebevollen, aber eben auch sehr enggesteckten und vor allem sehr konsequenten Erziehungsstils bei meinen Kindern bedarf. Dabei geht es nicht darum, sie auf Gedeih und Verderb auf Leistung zu trimmen. Ganz im Gegenteil, es geht „nur“ darum, dass sie irgendwann im bürgerlichen Leben bestehen, wie auch immer sie dieses dann für sich gestalten wollen.

    Der Umgang mit meinen Kindern in diesen Situationen hat aber, das wäre mir hier wichtig, nichts mit zusätzlichem Druck oder gar dem Brechen des Willen der Kinder zu tun, sondern viel mehr mit einer essentiell wichtigen Konsequenz. Denn nur so lernen sie, dass sie mit ihrem anstrengungsvermeidenden Verhalten nicht durchkommen. Das brauchen sie auch nicht mehr, denn sie sind nicht mehr in einer lebensbedrohlichen Situation, in der sie um ihr Überleben kämpfen müssen. Es geht nur darum, z.B. Hausaufgaben zu machen. Die andere Botschaft in diesen Situationen, in denen ich bei den Kindern bleibe und mit ihnen die Wut und die Verzweiflung aushalte, ist aber noch viel wichtiger: „Ich bleibe bei Dir, egal wie. Ich halte Dich und ich halte Dich aus.“

    Das Beispiel von Deinem Sohn ist ein sehr schönes. So pflegen wir das auch in unseren friedlichen Alltag. Doch wenn Wut und Verzweiflung, Ohnmacht und Angst bei meinen Kindern übernehmen, dann sind sie auch gar nicht mehr in der Lage zu verhandeln oder ihre Probleme selbst zu lösen. Das würde sie nur noch mehr überfordern.

    Ja, es ist ein schwieriges Thema, die Anstrengungsverweigerung. Um so dankbarer bin ich Dir für Deine Gedanken, die neue Impulse setzen, sich noch einmal von einer anderen Seite mit ihr auseinanderzusetzen, um noch einmal mehr Klarheit zu schaffen.

    Liebe Grüße
    Charlotte

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    1. Liebe Charlotte, danke für deine Antwort! Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, du würdest meinen Artikel kommentieren, denn ich war sehr gespannt auf deine Sichtweise. Was du schreibst – auch hier – klingt, als ob du dich wirklich bemühst, deine Kinder zu SEHEN und sie in guten, aber auch stressreichen Momenten zu begleiten. Ja, was für ein schmaler Grat zwischen Konsequenz und zusätzlichem Druck, der ja durchaus auch aus deiner konsequenten Haltung in solchen Situationen entsteht. Hut ab, wie du dich diesem Dilemma stellst! Was mir noch einfällt: ich reagiere in Konfliktsituationen mit meinem Sohn häufig so, dass ich mich ein wenig wie im „Tai Chi“ bewege: ich gehe ein Stück weit auf seine Wünsche ein, kehre dann aber zu meiner Ausgangsforderung zurück, also z.B. „Noch eine Runde Eisenbahn, dann aber definitiv ins Bett.“ Das akzeptiert er oft besser, als wenn ich stur bei meiner Forderung bleibe. Aber du hast recht, wenn die Nerven wirklich blank liegen, geht auch kein „Verhandeln“ mehr, dann muss auch ich manchmal einfach seine Wut aushalten und ihn durch sie hindurch begleiten. Herzlichen Gruß und gern auf weiteren Austausch – würde mich freuen! Sunnybee 🙂

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