Familie, Psychologie

„Er hat sich dann gar nicht mehr angestellt!“ Wie Sprache die Beziehung zu unseren Kindern bestimmt

Trauriger Junge versteckt sich zwischen Sofakissen.

Er hat sich dann gar nicht mehr angestellt.“ Das sagte vor einigen Wochen die Kita-Erzieherin meines Zweijährigen zu mir. Nachdem er monatelang gern in die Krippe gegangen war, weinte er beim Abgeben an der Tür auf einmal herzzerreißend. Mit den Erzieherinnen hatte ich schon herauszufinden versucht, was der Grund dafür sein konnte. Wirklich eine Antwort hatten wir nicht gefunden und offenbar spielte mein Sohn nach dem Anfangsschmerz auch zufrieden in der Gruppe. Also ließ ich ihn schweren Herzens bei seiner Erzieherin, allerdings mit der Bitte, sie solle sich melden, würde er sich nicht innerhalb von zehn Minuten beruhigen. Ihr Anruf, nur fünf Minuten später: „Es sei alles wieder gut, er habe schon zu spielen begonnen.“ Gute Nachricht! Aber dann dieser Satz: „Er hat sich schon beim Ausziehen der Jacke gar nicht mehr angestellt.“

Mir bereitet dieser Satz bis heute Bauchschmerzen. War die Wortwahl nur unbedacht? Oder zeigt sich darin eine Haltung, die ich mir ganz und gar nicht für mein Kind in der Kita wünsche? Nämlich die, dass mein Sohn möglichst „pflegeleicht“ zu sein hat. Sich eben „nicht anstellen“ soll, ziemlich egal, wie es in ihm gerade aussieht. Würde die Frau so auch über ihre beste Freundin sprechen? „Sie hat zwar noch Liebeskummer, aber sie hat sich gar nicht mehr angestellt, als sie ihren Ex-Freund getroffen hat.“ Oder über ihren Partner: „Sein Gehalt wurde gekürzt, aber zum Glück hat er sich nicht weiter angestellt.“ Erwachsenen bringen wir in vielen Fällen mehr Empathie entgegen als Kindern, deren unmittelbare Gefühlsäußerungen uns offenbar überfordern. Oder warum sonst loben wir sie dafür, dass sie ihre Gefühle unterdrücken?

„Ich bin ein harter Hund, Mama! Mir tut nichts weh.“

Der nächste Satz, der mich schlucken ließ, kam vor etwa zwei Jahren von meinem damals kaum fünfjährigen älteren Sohn. Er hatte sich beim Spielen gestoßen, sein Bein tat ihm offensichtlich weh. Aber er versuchte es nicht zu zeigen: „Ich bin ein harter Hund, Mama!“, so sein Kommentar mit halb lächelndem, halb schmerzverzerrtem Gesicht. Willkommen im Bootcamp für echte (kleine) Kerle… Da zeigen Indianer keinen Schmerz, verkneifen sich Cowboys die Tränen und „harte Hunde“ bleiben möglichst ungerührt. Gefühle? Fehlanzeige. Autsch! 

„Er trotzt bloß!“

Ein Satz, den ich persönlich in Bezug auf meine Kinder zum Glück noch nicht gehört habe. Aber allzu oft eben doch, gerade auch im pädagogischen Umfeld. Auch hier frage ich mich: Warum nehmen selbst eigentlich fachlich ausgebildete Erwachsene den Wunsch nach Autonomie und Eigenständigkeit von Kindern so wenig ernst? Ist ein 1 1/2-Jähriger wütend, „trotz“ er. Ist sein großer Bruder beleidigt, „hat er seine fünf Minuten“. Und der beste Freund, der Nachbar, die Kollegin, die sich über eine – womöglich ähnlich banale – Ungerechtigkeit empören? Sie regen sich unserer Meinung nach zu Recht auf. Fühlen sich ungerecht behandelt, haben die Schnauze voll, bevormundet zu werden. Ihnen gestehen wir den Wunsch nach Eigenständigkeit und die entsprechende Empörung, wenn diese beschnitten wird, zu. Unseren Kindern oft nicht. Warum?

„Da muss er jetzt durch!“

In eine ähnliche Richtung gehen Sätze wie dieser, die ich persönlich besonders herzlos finde. Unser Großer wollte zum Beispiel mit etwa drei Jahren von einem Tag auf den anderen nicht mehr abends ins Bett. Äußerlich hatte sich am Ablauf des Tages nichts geändert, er war auch sichtlich müde und bisher war das Ins-Bett-Bringen nie ein Problem gewesen. Ich hätte als Mutter jetzt darauf bestehen können, er solle sich nicht so anstellen, es gebe keinen Grund, sich auf einmal gegen das Schlafengehen zu wehren. Kurz: Da müsse er jetzt durch!… Statt dessen fragte ich meinen Sohn, was los war. Die Lösung des Problems: Er, der jahrelang völlig entspannt neben mir im dunklen Zimmer eingeschlafen war, hatte offenbar auf einmal Angst vor der Dunkelheit. Vielleicht ein Entwicklungsschub, die Erweiterung seiner Fantasie. Jedenfalls musste ab da für einige Zeit die Schlafzimmertür einen Spalt breit offen bleiben. So kam er wieder ohne Schwierigkeiten zur Ruhe – was übrigens bis heute der Fall ist. Hätte ich damals darauf bestanden, da sei nichts, er müsse da jetzt durch, hätte ich womöglich viel an Vertrauen verspielt und eine eigentlich kleine Angst erst groß werden lassen. Warum hören wir Erwachsenen unseren Kindern also manchmal gar nicht zu, wenn sie uns doch klar ihre Gefühle und Bedürfnisse benennen? 

Die Antwort darauf muss wohl jeder, der sich bei Sätzen wie den oben zitierten ertappt, für sich selbst finden. Manchmal fehlt uns vielleicht der Mut – oder die Kraft – uns den Gefühlen unserer Kinder zu stellen. Vielleicht mussten wir selbst als Kind die Erfahrung machen, mit unseren Bedürfnissen nicht ernst genommen zu werden. Oder wir durften nie lernen, dass es auch anders geht: Kinder in ihrer Würde und Integrität bestehen zu lassen – ohne sie und ihre Gefühle klein zu reden.

Welche Sätze, die die Integrität von Kindern bedrohen, fallen dir spontan ein? Wo hast du vielleicht selbst schon wenig emphatisch gehandelt – und wo versuchst du es besser zu machen? Schreibe es gerne in die Kommentare!

Herzlich, Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)

Die Autorin ist freie Journalistin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen sowie Mutter eines Kindergarten- und eines Grundschulkindes.

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[Foto: Pixabay]

3 Gedanken zu „„Er hat sich dann gar nicht mehr angestellt!“ Wie Sprache die Beziehung zu unseren Kindern bestimmt“

  1. Liebe Sarah,
    So schön dein Artikel. Ich selber bin mit all diesen Sätzen erzogen worden und es fällt mir mit meinen eigenen Kindern auch oft noch schwer. Aber ich bin schon viiiiel empathischer geworden. In meinem Kopf ist noch oft: „Ich lass mir nicht von dir auf der Nase rumtanzen.“ Und höre mich dann aber sagen: „Was brauchst du, damit das funktioniert?“
    Es ist ein langer Weg!

    Gefällt 1 Person

    1. Ja, liebe Petra, ich denke, diese Sätze sind noch tief verankert in vielen Köpfen. Zum Glück findet hier bei einigen inzwischen ein Umdenken statt. Stark wirken ist nicht stark sein und Gefühle zeigen ist nix Schlimmes, das sollten vermutlich noch viel mehr Erwachsene verinnerlichen.

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