Gesellschaft, Politik

Zwischen Wirtschaft und Politik: Welche Rolle spielt die Wissenschaft in der Pandemie?

Weiße Maus sitzt auf Hand mit medizinischen Schutzhandschuhen und schaut frontal in die Kamera.


Vor kurzem bin ich auf einen Artikel gestoßen, der die Rolle der Wissenschaft in der Corona-Pandemie beleuchtet und moralische Bewertungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse („Dieses Verhalten ist aus epidemiologischen Gründen wertvoll und solidarisch, jenes nicht“) kritisch hinterfragt. Ein Beitrag, der mich gerade sehr nachdenklich macht. Hat der Autor mit seiner Einschätzung recht? Prof. Michael Esfeld lehrt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Lausanne (Schweiz) und gehört seit 2009 der deutschen Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften an.

Wissenschaft als moralische Instanz

Der Artikel verwendet den Begriff des Szientismus, den Esfeld wie folgt erklärt: „Szientismus ist die Idee, dass der Gegenstandsbereich der Wissenschaft unbegrenzt ist und auch alle Aspekte unserer Existenz umfasst. So zum Beispiel auch die Moral: Wissenschaft gibt vor, was moralisch geboten ist. Diese Idee führt daher zu dem politischen Programm, die Gesellschaft gemäß wissenschaftlichen Vorgaben zu steuern. Dieses politische Programm ist ein Kollektivismus, weil eine wissenschaftliche Vorgabe für das allgemein Gute und seine Umsetzung über die Würde und die Rechte der einzelnen Menschen und ihrer sozialen Gemeinschaften wie der Familien gestellt wird. Seine Umsetzung läuft auf einen Totalitarismus hinaus, der in eine Gewaltherrschaft mündet.“

Starker Tobak. Übertreibt der Autor? Wir befinden uns doch nicht in einer Gesellschaft, die totalitäre Strukturen oder gar Züge einer Gewaltherrschaft aufweist? Andererseits werden innerhalb Deutschlands inzwischen seit beinahe einem halben Jahr im Rahmen von 2G- und 3G-Restriktionen Menschen aufgrund persönlicher Merkmale (Genesenenstatus), beziehungsweise individueller Entscheidungen (Impfung ja oder nein) offiziell aus dem sozialen Leben ausgegrenzt, in ihren Freiheitsrechten beschränkt und wie im Fall der angeblich unsolidarischen „Impfgegner/innen“ moralisch stigmatisiert. 

Grundrechtseinschränkungen und ihre politische Legitimation

Grundrechtseinschränkungen, die der Bewältigung eines Ausnahmezustands dienen sollten, werden zum Teil unabhängig von Voraussetzungen, die sie ursprünglich rechtfertigten, weiter aufrechterhalten. So beschloss Baden-Württemberg Anfang Januar 2022 trotz geringer Auslastung der Intensivstationen scharfe Corona-Maßnahmen, die eigentlich der Entlastung der Kliniken dienen sollten, “einzufrieren“ und noch mehrere Wochen lang prophylaktisch beizubehalten. Politiker/innen diskutieren und beschließen darüber hinaus Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Menschen, indem sie deren Impfung gegen Covid-19 und/oder regelmäßige verpflichtende Antigentests zur Voraussetzung für soziale Teilhabe, Bildung und die Ausübung einer existenzsichernden Berufstätigkeit machen. Das alles auf Grundlage eines wissenschaftlichen und politischen Diskurses, der stark von der Meinung einzelner Personen beziehungsweise Institutionen und deren Einschätzung geprägt ist und wie im Fall der aktuellen Omicron-Welle zum Teil nicht einmal auf Daten basiert, die innerhalb Deutschlands erhoben wurden.

Wie Prof. Esfeld es formuliert: „Die Corona-Politik ist der bisherige Höhepunkt eines neuen Szientismus und Kollektivismus, der wesentliche Merkmale mit früheren Kollektivismen gemeinsam hat: (i) der Anspruch in einer Elite von Wissenschaftlern, das Wissen über ein allgemein Gutes zu haben; (ii) in Verbindung mit diesem Wissensanspruch ein technokratisches Menschenbild, das die Menschen als Objekte ansieht, deren Lebenswege auf dieses angebliche allgemeine Gute hin gelenkt werden können und sollen; (iii) die Aufnahme dieses Wissensanspruchs und dieses Menschenbildes in Politik und Medien mit dem Machtanspruch, die Gesellschaft entsprechend zu steuern.“

Kapitalismus und kollektivistische Pandemiepolitik – was sind die Parallelen?

Ein technokratisches Menschenbild, das den Menschen auf seine Funktion und „Verwertbarkeit“ innerhalb eines Systems reduziert, verfolgt interessanterweise auch der Kapitalismus, wie Soziologin Aura Shirin Riedel in ihrem lesenswerten Artikel „Der Homo Oeconomicus bekommt keine Kinder“ mit Blick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zeigt. 

Der technokratisierte Mensch – sei es der „Homo oeconomicus“ als Idealtypus wissenschaftlicher Effizienz oder der statistisch erfasste und medizinisch optimierte Mensch gemäß aktueller deutscher Pandemiepolitik – ist nicht mehr „Herr seiner selbst“. Er dient dem Kollektiv, seine Entscheidungen – und letztlich sein Wert – müssen sich an seinem Nutzen für die kollektive Gemeinschaft messen lassen. Beiden Szenarien gemeinsam ist, dass jede Abweichung von den Grundwerten dieses Systems als Bedrohung angesehen und mit Ausschluss und gesellschaftlicher Sanktion bestraft werden. Der wirtschaftlich nicht vollständig verfügbare Mensch, zu dem ich Eltern mit kleinen Kindern oder auch Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen zähle, erlebt im kapitalistischen System ebensolche Nachteile wie im System einer kollektivistischen Pandemiepolitik diejenigen, die politisch vorgegebene Maßnahmen in Frage stellen oder sich ihnen gar widersetzen.

Dies geschieht in beiden Systemen übrigens weitgehend unabhängig davon, ob die Forderungen des Systems nutzbringend sind oder sich, zum Beispiel aufgrund veränderter Faktenlage, als unnötig oder gar schädlich erweisen. Eine 40-Stundenwoche als Standard der Erwerbstätigkeit wird veränderten familiären Strukturen und Bedürfnissen nicht gerecht; ebensowenig führen anlasslose Tests und der Ausschluss gesunder ungeimpfter Menschen aus dem sozialen Leben offenbar wirksam zur Eindämmung der Pandemie. Dennoch darf beides kaum in Frage gestellt werden, ohne sich innerhalb des Systems verdächtig zu machen oder sich zumindest automatisch als „anders“ zu positionieren. Das erleben Mütter und Väter, die aufgrund ihrer Kinder um neue Arbeitsmodelle und familienfreundliche Arbeitsbedingungen ringen ebenso wie aktuell die Kritiker/innen einer Pandemiepolitik, die zunehmend erratisch und zum Teil abgekoppelt von tatsächlicher wissenschaftlicher Erkenntnis an Maßnahmen festhält, die selbst nach Meinung von Experten übertrieben oder nicht zielführend sind

Der Mensch und sein gesellschaftlicher Wert

An Stelle der Vernunft und der individuellen Entscheidung tritt laut Wissenschaftsphilosoph Esfeld das Wohl des Kollektivs und eine Form selbstgewählter Unmündigkeit. Der Autor formuliert dies wie folgt: „Während Aufklärung gemäß Kant „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“ ist, erleben wir zurzeit eine durch Wissenschaft, Politik und Medien geleitete Entmündigung der Menschen. Man suggeriert, dass die Menschen Vernunft gar nicht selbst einsetzen können, weil sie die Verantwortung nicht tragen können, die mit Selbstbestimmung verbunden ist. […] Die Suggestion einer unbegrenzten Verantwortung dient dazu, selbstbestimmtes Handeln durch fremdbestimmtes Handeln zu ersetzen, das von angeblicher Wissenschaft gesteuert ist. Auf diese Weise soll es akzeptabel erscheinen, die Ausübung von Freiheitsrechten unter den Vorbehalt der Genehmigung durch staatliche oder supranationale Autoritäten zu stellen: Der zertifizierte Mensch tritt an die Stelle des mündigen Bürgers.“

Die Parallele zwischen ungebremstem Kapitalismus und einer kollektivistischen (Pandemie-) Politik liegt darin, dass das Wohl des Einzelnen nur scheinbar über allem steht. Statt tatsächlich dem Menschen zu dienen, wird hier im Namen des zu erreichenden Ziels und des angeblichen Mehrwerts aller der Einzelne reguliert, instrumentalisiert und letztlich in seinen Bedürfnissen und Wünschen für irrelevant erklärt. Übernimmt die Wissenschaft hierbei nicht mehr die Rolle der neutralen Beobachterin, sondern lässt sich zur Legitimation auch fragwürdiger politischer Entscheidungen nutzen, gerät sie zur Farce und zum Instrument derjenigen, die von ihr tatsächlich profitieren. Wirtschaftsphilosoph Esfeld stellt die Vermutung in den Raum, dies geschehe zugunsten einer „kleinen Elite, welche die Macht zur Konstruktion der Realität hat und von dieser Konstruktion auch wirtschaftlich profitiert“. Eine auf den ersten Blick gewagte These. Betrachtet man die Milliardengewinne von Unternehmen innerhalb der letzten zwei Jahre, die sich der Produktion von Impfstoffen, Antigentests oder auch dem Online-Handel und digitaler Kommunikation verschrieben haben, bei gleichzeitig ausbleibender Haftung der Firmen für Schäden, die zum Beispiel durch die Impfung und falsch positive oder negative Tests entstehen können, macht seine Aussage allerdings nachdenklich. 

Verknüpfung von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik

Ähnlich wie im Kapitalismus die Selbstausbeutung und die immer weitere, letztlich selbstschädigende, Selbstoptimierung, wird hier die Bereitschaft, sich statistisch erfassen und medizinisch verwalten und optimieren zu lassen, zur persönlichen Freiheit umgedeutet: So werden diejenigen, die im kapitalistischen System einsam und von persönlichen Bindungen möglichst unbeeinflusst, ihren beruflichen Erfolg anstreben, als „Gewinner“ dargestellt; im Rahmen einer kollektivistischen Pandemiepolitik wiederum erhalten diejenigen die meisten Privilegen oder „Freiheiten“, welche die erwünschten politischen Vorgaben kritiklos mittragen und sich „zum Wohl aller“ boostern, dauertesten und via Gesundheitspass erfassen lassen. 

Was bedeutet eine solche Verknüpfung aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik nun für den Einzelnen? „Der neoliberale Effizienzfetisch hat Systeme geschaffen, die stets gerade noch so funktionieren“, formuliert Leo Fischer, ehemals Chefredakteur des Satiremagazins „Titanic“, Anfang 2022 in einem kritischen Kommentar: „So wird die eigentlich soziale Aufgabe, die Individuen vor Katastrophen zu retten, zum Gegenteil: Die Individuen nehmen Katastrophen hin, damit die Systeme nicht mehr in die peinliche Lage geraten, sie verhindern zu müssen. Systeme werden nicht mehr auf Schwankungen, Reserven oder auch nur konjunkturelle Zyklen ausgerichtet, sie haben Normalität zur unausgesprochenen Voraussetzung.“

Eine solche „Normalität“ kollabiert gerade sichtbar angesichts Herausforderungen wie der mittlerweile über zwei Jahre andauernden Pandemie. Die Wissenschaft könnte hier die Rolle der unparteiischen und dadurch stabilisierenden Dritten übernehmen – tatsächlich werden wissenschaftliche Erkenntnisse aktuell seitens der Politik aber häufig genutzt, um allzu einfache Antworten für lang bestehende Missstände zu finden („Sind erst alle geimpft, ist das deutsche Gesundheitssystem nicht mehr überlastet“). Zum Teil wird die bestehende Not wie im Bildungsbereich durch widersprüchliche und unverhältnismäßig harte Maßnahmen gegenüber Kindern und Jugendlichen sogar noch verstärkt. 

Echte Solidarität schließt Menschen nicht aus

„[D]er postmoderne Kollektivismus zerstört letztlich – genau wie die früheren Kollektivismen – die Lebensgrundlagen aller“, formuliert Wirtschaftsphilosoph Esfeld. Somit liege der Weg aus dieser, mit der Pandemie einhergehenden, schleichenden Entmündigung des Einzelnen letztlich darin, sich auf die eigene Individualität zu besinnen und auf die damit einhergehenden unveräußerlichen Rechte. Wie Prof. Esfeld es formuliert: „Es erfordert nicht mehr als den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das dazu benötigte Wissen ist kein Expertenwissen, sondern Allgemeingut. Dabei geht es nicht um die Freiheit als solche selbst. Es geht darum, dass der republikanische Rechtsstaat auf der Basis der Anerkennung der Grundrechte aller am besten geeignet ist, die Lebensgrundlagen der Menschen zu sichern.“ Echte Solidarität beginnt dort, wo die Rechte aller Menschen geschützt werden und nicht nur die Rechte derjenigen, die die Vorgaben einer kollektivistischen – wenn auch vermeintlich wissenschaftlich legitimierten – Politik befolgen. 

Was ist eure Meinung hierzu? Wie immer freue ich mich über eine offene und wertschätzende Diskussion zum Thema!

Herzlichen Gruß, Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)

Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen und Mutter eines Kindergarten- sowie eines Grundschulkindes.

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[Foto: Pixabay]

Ein Gedanke zu „Zwischen Wirtschaft und Politik: Welche Rolle spielt die Wissenschaft in der Pandemie?“

  1. Ergänzend möchte ich hier auf einen Kommentar verweisen, der am 12.01.2021, also vor etwas über einem Jahr, auf der Seite des ZDF veröffentlicht wurde. Auf die Frage „Ist eine Impfpflicht rechtlich möglich?“ antwortete der Autor: „Sollte sich erweisen, dass man trotz Impfung sich und andere anstecken kann, dann wäre die Impfung primär eine Frage der persönlichen Gesundheitsvorsorge. Dazu dürfen grundsätzlich weder Behörden noch Arbeitgeber den Menschen Vorschriften machen. Zwar gibt es ein Interesse des Arbeitgebers an gesunden Mitarbeitern und des Staates an Kliniken und Behörden mit möglichst wenig krankheitsbedingten Ausfällen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle, die dort arbeiten, rechtlich verpflichtet werden können, gesund zu leben und sich vor jedweden Krankheitsrisiken zu schützen. Wer vor und nach der Arbeit übermäßig raucht, trinkt, isst und sich nicht bewegt, der darf das tun. Auch die Impfung wäre in diesem Fall Privatsache“ (Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-fragen-impfpflicht-100.html).

    Inzwischen ist klar, dass genau dies der Fall ist: die Impfung gegen Covid-19 erzeugt keinen sterilen Schutz, eine Ansteckung ist weiterhin möglich (wenn auch tendenziell mit leichterem Verlauf) und auch die Weiterverbreitung der Krankheit ist trotz Impfung möglich. Dennoch wird aktuell weiter über eine mögliche allgemeine Impfpflicht diskutiert, für das Gesundheitswesen wurde die einrichtungsbezogene Impfpflicht im Dezember 2021 sogar gesetzlich beschlossen, Ungeimpfte müssen ihre Gesundheit im Rahmen von 3G-Regelungen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nachwievor per Test nachweisen, während dies für Geimpfte nicht gilt – das alles ENTGEGEN der oben genannten Erkenntnisse.

    Es sind genau Entscheidungen wie diese, die die aktuelle deutsche Pandemiepolitik für mich zunehmend unplausibel machen und mich stellenweise an ihrer Rechtmäßigkeit zweifeln lassen. Neben der Tatsache, dass hier Menschen im Namen der Wissenschaft, aber gar nicht entsprechend aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis, massiv in ihren (Grund-) Rechten beschränkt werden, bedrückt mich zudem, dass dies große Teile der Bevölkerung nicht einmal zu stören scheint (vgl. Statista, 04.02.22).

    Wer steht also Kopf innerhalb eines demokratischen Systems, das im Namen der Wissenschaft und des Wohls aller Menschen offen benachteiligt und unter Druck setzt? Und das zum Teil gar nicht entsprechend aktueller wissenschaftlicher Erkenntnis? Diese Fragen sind wichtig. Sie betreffen mehr als die allgemeine Gesundheitsvorsorge und sind grundsätzlich von Bedeutung für unser demokratisches Selbstverständnis. Darum stelle ich sie als Bürgerin dieses Landes, als Mutter und dankbare Befürworterin unserer demokratischen Grundordnung hartnäckig immer wieder. Auch als Mahnung und Denkanstoß, sich immer wieder für demokratische und rechtsstaatliche Werte einzusetzen und diese nie als selbstverständlich anzunehmen.

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