
„Mama, wie war das früher: Sind Mütter da auch ins Büro gefahren?“, „Warum durften Männer im antiken Griechenland allein entscheiden, wen ihre Tochter heiraten sollte?“ „Durften Mädchen im Mittelalter in die Schule gehen?“ Falls dir deine Tochter, deine Nichte oder dein Patenkind (oder vielleicht auch dein Sohn?) irgendwann Fragen dieser Art stellt, kannst du mit ihr oder ihm jetzt ein spannendes Buch anschauen: „Frauenleben im Lauf der Zeit“ von Katarzyna Radziwiłł und Joanna Czaplewska, auf Deutsch erschienen 2021 im Schweizer Helvetiq-Verlag.
Illustration und Text: Unterhaltsam und informativ
Was sofort auffällt, sind die farbenfrohen und detaillierten Zeichnungen der Illustratorin Joanna Czaplewska, die den ganz eigenen Stil des Buches ausmachen. Sie wirken fröhlich und unbeschwert und vermitteln doch einen umfassenden Eindruck, wie Frauen sich im Verlauf der Zeit kleideten, was sie aßen, welchen Berufen sie nachgingen und was ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft war.
Die Texte, die Katarzyna Radziwiłł dazu verfasst hat, haben es in sich. Und das nicht nur, weil ich als Leserin durch sie viel über Aufgaben und die rechtliche und soziale Rolle von Frauen und Mädchen im Verlauf der Jahrhunderte erfahre, sondern weil sie oft Aussagen enthalten, die uns aus heutiger Sicht fast unglaublich erscheinen. „Eine Frau war im antiken Griechenland kein freier Mensch. Solange sie nicht verheiratet war, gehörte sie ihrem Vater. [Ab der Hochzeit] bestimmte der Ehemann über den Besitz der Frau und konnte über sie bestimmen: Er konnte sie aus dem Haus jagen und sogar töten! Wenn der Ehemann starb, dann übernahm der erwachsene Sohn die Macht über seine Mutter.“ Sätze wie diese lassen das antike Griechenland, in der europäischen Klassik zur Hochphase von Kultur und Humanismus stilisiert, doch in etwas anderem Licht erscheinen. Und umgekehrt wird deutlich, dass das „dunkle Mittelalter“ Frauen durchaus die Möglichkeit gab, berufstätig zu sein, lesen und schreiben zu lernen und eigenes Geld zu verdienen. Als Händlerin, Wirtin oder auch Apothekerin leisteten Frauen einen bedeutenden Beitrag zum sozialen Leben.

Ähnlich wie (westliche) Schulgeschichtsbücher orientiert sich das Buch an der europäischen Epocheneinteilung von der Steinzeit über die griechische und römische Antike hin zu Renaissance, Mittelalter und Neuzeit. Damit übernimmt es, obwohl sonst klar feministisch geprägt, leider doch wieder den eurozentrischen Blick fast aller Schulbücher hierzulande. Lediglich die Situation von Frauen in Ägypten zur Zeit der Pharaon/innen kommt als Beispiel außerhalb Europas zur Sprache, die Geschichte von Frauen in Afrika, Asien oder Lateinamerika oder auch die der Aborigines- oder Maori-Frauen bleibt unerzählt.
Überraschend und lehrreich
Auch so erfahre ich als Leserin aber viel über die Situation von Frauen im Lauf der Zeit. So wusste ich zum Beispiel selbst nicht, wie unterschiedlich die Lebensumstände von Frauen in den verschiedenen Landesteilen des antiken Griechenlands war. Während Frauen an einigen Orten offenbar nicht einmal aus dem Fenster schauen durften, gab es andernorts sogar Schulen, in denen Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet wurden und die Dichterin Sappho ist bis heute bekannt als Künstlerin der griechischen Antike. Ebenfalls wusste ich nicht, dass Mädchen in Ägypten zur Zeit der Pharaon/innen bis sie erwachsen waren keine Kleidung tragen mussten und dass andererseits im 19. Jahrhundert die Frisur und Kleidung von Frauen etwas über ihr Alter und ihren sozialen Status verriet: verheiratete Frauen trugen bodenlange Röcke und hochgestecktes Haar, während unverheiratete Frauen ihre Knöchel zeigten und ihr Haar oft zu Zöpfen flochten.
Informationen wie diese machen das Buch unterhaltsam und lehrreich zugleich, genauso wie die Textpassagen zum Wahlrecht der Frauen, ihrer rechtlichen Situation innerhalb der Familie oder auch der Bedeutung der Religion für Frauen im Lauf der Zeit. Gerade in Bezug auf letzteres hätte ich mir allerdings noch klarere Aussagen bezüglich der Rolle der katholischen Kirche zum Beispiel in Mittelalter und 16. und 17. Jahrhundert gewünscht. So erwähnen die Autorinnen zwar das Ideal der „frommen Mutter und Ehefrau“ des Barock sowie die bis ins späte 18. Jahrhundert (!) andauernden Hexenprozesse. Unerwähnt bleibt dabei aber die Rolle von Kirchenvertretern und kirchlicher Inquisition. Ob hierbei eine Rolle spielt, dass das Buch zunächst im streng katholischen Polen erschien, kann ich nur mutmaßen – jedenfalls hätte ich mir an dieser Stelle einen etwas kritischeren Blick gewünscht.
Leseempfehlung für Kinder ab acht Jahren
Auch so liefert das Buch aber jede Menge Gesprächsstoff über gesellschaftliche Rollen und Erwartungen an Frauen (und Männer) im Lauf der Zeit. Schon mein fünfjähriger Sohn hat das Buch mit Interesse durchgeblättert – richtig spannend wird es dann wohl für Kinder im Grundschulalter. Der Verlag gibt eine Empfehlung ab acht Jahren.
Ich selbst kann es euch jedenfalls nahelegen als feministischen Beitrag zur (Frauen-) Geschichtsschreibung und Fundgrube für Wissen über das Leben von Frauen in Europa im Lauf der letzten rund 10.000 Jahre. Lesenswert!
Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)
Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familienthemen und Mutter eines Babys sowie eines Kindergartenkindes.
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[Fotos: privat; ich danke dem Verlag für das zu Verfügung gestellte Rezensionsexemplar. Der Beitrag gibt dennoch ausschließlich meine persönliche Meinung wieder.]