Gesellschaft, Kunst

Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (Rezension)

Buchtitel „Im Grunde gut“

Stell dir vor, die fliegst mit einem Flugzeug. Es muss notlanden und ein Feuer bricht aus. Was passiert? A) Die Leute erkunden sich nach dem Befinden ihres Sitznachbarn, helfen Schwachen und Verletzten und lassen einander an den Notausgängen den Vortritt. Oder B) Alle versuchen so schnell wie möglich, das Flugzeug zu verlassen, Schwache, Alte und Kinder werden überrannt, es bricht Panik aus. Welches Szenario wird passieren?

Was ist wahrscheinlicher: Brutalität oder Mitgefühl?

Der niederländische Historiker und Autor Rutger Bregman stellt in seinem Buch „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit“ genau diese Frage. Was ist wahrscheinlicher: Egoismus, Brutalität und daraus resultierend Chaos – oder das genaue Gegenteil: gegenseitige Fürsorge und Rücksichtsnahme? Du hast dich für Szenario B, das Chaos, entschieden (vielleicht mit der Hoffnung, dich zu täuschen)? Dann bist du in guter Gesellschaft. Offenbar erwarten rund 97% (!) der Befragten das Schlimmste. Und das, obwohl Hunderte von Ereignissen in der Geschichte weltweit zeigen, dass etwas ganz anderes passiert.

Im Falle echter Katastrophen reagieren Menschen nämlich offenbar gerade nicht egoistisch und aggressiv, sondern höchst rücksichtsvoll. Die Menschen in den Twin Towers nach 9/11 liefen geduldig die Treppen hinunter, ließen Feuerwehrleuten und Verletzten den Vortritt und waren dabei offenbar sogar noch höflich zueinander. In New Orleans, das 2005 von Wirbelsturm Katrina zerstört wurde, bilden sich Hunderte spontaner Hilfstrupps und viele der Plünderer, von denen in den Medien berichtet wurde, stahlen Lebensmittel, Kleidung und Medikamente lediglich um selbst zu überleben, oder sogar, wie eine Gruppe, die sich „Robin-Hood-Plünderer“ nannte, um die Ärmsten der Stadt damit zu versorgen. Und auch wenn wir uns selbst und unsere Mitmenschen mitten in der jetzigen Pandemie betrachten: der Großteil bemüht sich, all die Vorgaben der Regierung zum Schutz vor der Erkrankung umzusetzen. Geduldig warten wir, bis wir einen Termin für eine mögliche Impfung zur Immunisierung erhalten und in den ersten Wochen der Pandemie im Frühjahr 2020 mobilisierten die Menschen Mutmach-Konzerte, Hilfsnetzwerke und nähten Masken, zeigten sich im Ganzen also höchst solidarisch. 

Soziales Verhalten als Überlebensvorteil

Wie der Historiker Bregman betont, konnte sich der Mensch unsoziales und selbstsüchtiges Verhalten Jahrtausende lang schlicht nicht erlauben: er wäre sonst sozial geächtet, aus seinem (Nomadem-) Clan ausgestoßen worden und damit zum Tode verurteilt gewesen. Erst als die ersten Menschen vor rund 10.000 Jahren sesshaft wurden, änderte sich ihr Blick auf Besitz und damit auch auf das soziale Miteinander. Auf einmal verstanden sie die Natur und die sie umgebenden Tiere nicht mehr als etwas, zu dem alle Zugang hatten und das dennoch niemandem gehörte, sondern fingen an, „ihr“ Land zu bestellen, „ihre“ Tiere zu halten und den eigenen Besitz anderen gegenüber zu verteidigen. Mit dem Eigentum kam das Misstrauen, jemand könne sie um eben dieses Eigentum bringen. Die Menschen begannen, Geld gegen Waren zu tauschen, Ländergrenzen wurden festgelegt und Gesetze erfunden, um in immer größer werdenden Gemeinschaften das soziale Miteinander zu regulieren. 

Und irgendwann, so Bregman, fingen die Menschen an, zu glauben, ohne Gesetze, Regulierungen und Verbote nicht mehr miteinander leben zu können. Die Zivilisation war geboren und mit ihr das tiefe Misstrauen der „unzivilisierten“ menschlichen Natur gegenüber. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ vermutete  Mitte des 17. Jahrhunderts der Philosoph Thomas Hobbes. Sein Bild des Menschen wirkt bis heute nach: ohne Regeln und Gesetze, Erziehung und Kultur, so die Meinung vieler, werde der Mensch zur Bestie und verliere jedes Mitgefühl seinen Mitmenschen gegenüber.

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung

Das dieses Bild nicht nur falsch, sondern geradezu schädlich ist, zeigt Bregman in seinem Buch auf beeindruckende Weise. Wie ein Nocebo lässt uns die immer gleiche Flut von Meldungen, die die Boshaftigkeit, Selbstsucht und Aggressivität des Menschen zu zeigen scheinen, schließlich tatsächlich an das Böse in unseren Mitmenschen glauben. Dabei wäre es, so der Autor, realistisch, das Gute zu erwarten. 

Das weltberühmte Stanley-Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo, bei dem eine Gruppe von Probanden als „Aufseher“ andere Teilnehmer, die „Gefangene“ zu spielen hatten, quälten? Wie Bregman anhand akribischer Recherche zeigt, war das Ganze ein Fake. In Wirklichkeit blieb es im „Gefängnis“ so lange friedlich, bis Zimbardo den „Aufsehern“ sagte, sie dürften nicht zu nett zu den „Gefangenen“ sein, um das Experiment nicht zu gefährden. Daraufhin bemühten diese sich tatsächlich um einen deutlich raueren Ton – allerdings nicht aus inhärenter Bosheit, sondern aus genau dem Gegenteil: sie wollten mit Versuchsleiter Zimbardo kooperieren und ihm für das Geld, das er ihnen zahlte, etwas bieten…

Verführbar durch Macht – und den „guten Zweck“

Auf diese menschliche Besonderheit weist Bregman auch hin: der Mensch ist durchaus in der Lage, Böses zu tun. Man muss ihm nur einreden, es sei für einen guten Zweck. Und man muss die Gegenseite entmenschlichen. Soldaten kämpfen aus Solidarität zu ihren Kameraden – und gegen einen (gesichtslosen) Feind. Im dritten Reich meinten Durchschnittsbürger, ihrem Land Gutes zu tun, indem sie Deutschland von Juden „befreiten“ und brachten in den Konzentrationslagern Millionen jüdischer Menschen um. Und die Probanden schließlich in Zimbardos Experiment, die für den Versuchsleiter die „Gefangenen“ quälten, handelten ebenfalls in bester Absicht – nur leider für den falschen Zweck. Tatsächlich verhielten sich nur einige wenige ernsthaft aggressiv, berechnend und manipulativ: diejenigen, die die Befehle gaben

Neben der Tatsache, dass Menschen offenbar bereit sind, den größten Blödsinn mitzumachen, wenn man sie nur überzeugen kann, es sei für einen guten Zweck, scheint eine Sache sie tatsächlich zu korrumpieren: Macht. Wem zu lange das Regulativ der Gemeinschaft fehlt, wer nur noch von Menschen umgeben ist, die deutlich tiefer in der Hierarchie stehen, der scheint offenbar tatsächlich den Blick für andere zu verlieren. Führen wir also tatsächlich auf Geheiß weniger Kriege, zerstören die Natur, quälen Tiere und bringen unsere Mitmenschen um? Reden uns zudem ein, das sei „ganz normal“, der Mensch sei eben so, wenn man ihn machen lasse?… 

Sind wir mitfühlender und großzügiger als wir denken?

Bregman jedenfalls bietet uns am Ende seines Buches zehn „Lebensregeln“, wie wir uns und unsere Mitmenschen wieder als das erkennen können, was wir sind: als im Grunde gut. Weil mich seine Ideen beeindrucken, zitiere ich sie hier sinngemäß:

  1. Geh im Zweifelsfall vom Guten aus.
  2. Denke in Win-Win-Situationen: Gutes bringt alle weiter.
  3. Andere Menschen sind nicht wie du. Frage, was sie brauchen, statt ihnen zu geben, was du denkst, dass sie brauchen.
  4. Verausgabe dich nicht dabei, das Leid anderer zu fühlen, nutze dein Mitgefühl um es zu beheben.
  5. Versuche, andere zu verstehen, auch wenn du kein Verständnis für sie aufbringen kannst. Oft bringen uns die Menschen, die wir unbequem finden, besonders weiter. 
  6. Sorge gut für dich, damit du gut für andere sorgen kannst.
  7. Meide (Schreckens-) Nachrichten. Wähle sorgfältig, welche Informationen du aufnimmst.
  8. Strecke deinem größten Feind die Hand hin. Willst du ihn ändern, gehe vom Besten in ihm aus.
  9. Tue Gutes und sprich darüber. Es könnte andere inspirieren.
  10. Sei realistisch: glaube an das Gute. Sei großzügig und vertrauensvoll.

Rutger Bregman hat ein wirklich inspirierendes Buch geschrieben, dessen Gedanken mich weit über die Lektüre hinaus beschäftigt haben. Ich kann es jedem empfehlen, der Mut braucht, „anders realistisch“ zu sein. Nicht das Schlimmste zu befürchten, sondern vom Guten auszugehen. Und dieses mit Großzügigkeit und Vertrauen immer wieder auch selbst in die Welt zu bringen. 

Herzlichen Gruß

Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)

Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen und Mutter eines Kindergarten- sowie eines Grundschulkindes.

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[Foto: privat]

6 Gedanken zu „Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (Rezension)“

  1. Vielen Dank für diese spannende Rezension! Über das Buch und den Autor habe ich schon mehrere Artikel gelesen und fand sie alle sehr vielversprechend. Ich sollte das Buch wohl endlich lesen.

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  2. Hi Sarah, lass mich noch mal darauf zurückkommen. Ich habe es als Hörbuch gehört und es hallt in mir noch mächtig nach. Besonders wie der Autor mit den ein oder anderen Annahmen über die Gattung Mensch aufräumt, von denen auch ich bisher felsenfest ausgegangen bin. Sehr gut.

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    1. Nicht wahr? Ich denke selbst auch noch oft daran. Vor allem die Annahme, der Mensch sei grundsätzlich kooperationsbereit und müsse eben gerade nicht durch Regeln, Verbote und Strafen „sozial gemacht“ werden, finde ich geradezu revolutionär. Jedenfalls würde sie unser ganzes Gesellschaftssystem (Schulsystem, Strafvollzug, öffentliche Ordnung) in Frage stellen. Wer so etwas behauptet und entsprechende Veränderungen (z.B. einen wirklich auf Rehabilitation ausgerichteten Strafvollzug oder Schulen ohne Zwang und Bewertung) umsetzen möchte, wird von vielen ja rundweg als naiv bezeichnet. Und doch zeigt sich oft: Menschen engagieren sich besonders dort für andere, wo sie dies aus freien Stücken tun können.
      Und diejenigen, die dauerhaft gegen die Gemeinschaft arbeiten, werden letztlich einfach gemieden und schaden damit sich selbst. Anders als momentan, wo man den Eindruck haben kann, dass oft vor allem diejenigen die meisten Vorteile genießen, die entweder selbst die Regeln vorgeben, sich an diese am besten anpassen, oder aber sie für sich am gewinnbringendsten auszulegen wissen. Ein wirklich soziales, menschenfreundliches Miteinander geht für mich anders.

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