
Ich habe dieses Buch an einem Abend verschlungen. Dr. Dilek Gürsey, erfolgreiche Herzchirurgin aus der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Neuss, beschreibt darin die ersten vierzig Jahre ihres Lebens. Nachdem sie sich in der „Königsdisziplin“ der Chirurgie durch Engagement, Fleiß und Können bis (fast) nach ganz oben gekämpft hat, erlebt sie 2019 einen Höhepunkt und zugleich Tiefpunkt ihrer beruflichen Karriere. Sie erhält die Auszeichnung als „Medizinerin des Jahres 2019“ und verliert zugleich ihre Anstellung als Oberärztin an einer Klinik in NRW. Hochqualifiziert und selbstbewusst, bewirbt sie sich bei mehreren anderen Kliniken, kassiert aber eine Absage nach der anderen. Schließlich entschließt sie sich zu einem ganz anderen Weg…
Vom Gastarbeiterkind zur erfolgreichen Chirurgin
Geboren wird Dilek Gürsoy 1976 als Tochter türkischer Gastarbeiter in Neuss. Für ihre Mutter, eine einfache und zugleich starke Frau, ist von Anfang an klar: Deutschland wird die neue Heimat der Familie. Entsprechend fördert sie, die selbst nicht einmal lesen und schreiben lernen durfte, die frühe Bildung ihrer Tochter und deren wenig älteren Bruder. Für Dilek ist sehr früh klar: will sie ihren Traum, Ärztin zu werden, den sie von früher Kindheit an hat, verwirklichen, muss sie in der Schule fleißig sein. Und ihr gelingt es tatsächlich als Erste ihrer Familie, Abitur zu machen und ein Studium der Medizin zu beginnen.

Als Studentin und junge Ärztin hat Dilek Gürsoy einen klaren Fokus: sie will soviel lernen wie möglich – was ihr auch gelingt – und nach einigen Jahren ist ihr klar: ihr Fachgebiet soll die Herzchirurgie werden. Ausgerechnet dieser als „Männerdomäne“ verschriene Bereich der Medizin… Während ihrer praktischen Ausbildung lässt sich die junge Ärztin weder von chauvinistischen Sprüchen mancher Kollegen noch von der rigiden Klinik-Hierarchie aus dem Gleichgewicht bringen. Im Gegenteil: strotzend vor jugendlichem Selbstvertrauen gratuliert sie nach einem Jahr als Assistenzärztin an einem der renommiertesten Herzchirurgiezentren Nordrhein-Westfalens ihrem Chef dazu, sie als Mitarbeiterin engagiert zu haben. Und sie erlebt tatsächlich Förderung und Wertschätzung seitens ihrer männlichen Kollegen. Allerdings auch, dass ihr eigener Doktorvater Ergebnisse ihrer Doktorarbeit ohne Nennung ihres Namens veröffentlicht und dadurch „versehentlich“ ihre gesamte Promotion gefährdet.
Dilek Gürsoy aber kämpft sich durch. Sie weiß um ihr Können, weiß, dass sie gut ist in dem, was sie tut, dass sie sich über die Jahre zur veritablen Expertin im Bereich der (Kunst-) Herztransplantation entwickelt hat. So hat sie als erste Frau in Europa überhaupt einem Patienten ein komplettes Kunstherz implantiert. Andererseits spürt sie aber auch immer, dass sie gut sein muss – oft doppelt so gut wie ihre männlichen Kollegen – um als Ärztin und Chirurgin anerkannt zu werden.
Wendepunkt HerCAREER und der Mut, der inneren Stimme zu folgen

2017 macht sie im Rahmen der Karrieremesse HerCAREER schließlich zum ersten Mal die Erfahrung weiblichen Netzwerkens und der gegenseitigen Unterstützung beruflich ambitionierter und erfolgreicher Frauen. Es ist ein Erlebnis, das sie tief beeindruckt und ihr Leben wiederum in neue Bahnen lenkt. Dilek Gürsoy hat nun eine Mission: sie möchte ein eigenes Zentrum für Kunstherztransplantation aufbauen. In Universitäten und Kliniken, wo sie ihre Pläne vorstellt, findet sie jedoch keine Unterstützer. Statt dessen erhält sie eine Absage nach der anderen.
Schließlich entscheidet sie sich aus tiefer Überzeugung und zugleich mit dem Mut der Verzweiflung für Plan B: statt weiter vergeblich nach einer Anstellung zu suchen, die ihrer Qualifikation und ihrem Ehrgeiz entspricht, wird sie ihren Traum selbst verwirklichen: sie wird ihr eigenes Kompetenzzentrum für Herz- und Kunstherzchirurgie gründen!
An dieser Stelle endet die Autobiografie, die Dilek Gürsoy gemeinsam mit der Politologin, Journalistin und Autorin Doreen Brumme geschrieben hat. Nicht der Schlusspunkt ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung, kein salbungsvoller Rückblick auf Erfolge und erreichte Ziele. Vielmehr ein echter Wendepunkt: (Vorerst) gescheitert an der „gläsernen Decke“ eines männlich geprägten, extrem hierarchischen Berufsumfeldes – und zugleich fest entschlossen, sich durch die zahlreichen Hürden, mit denen sie konfrontiert wird, nicht von ihren Plänen abbringen zu lassen. „Unterstützt das System, in dem ich mich bewege, mich nicht (mehr), schaffe ich mir eben das Umfeld, das ich brauche!“, so ihr halb trotziges, halb ungebrochen selbstbewusstes, Fazit.
Mich beeindruckt Dilek Gürsoys Entschlossenheit und ihr Elan – und zugleich erschreckt mich, dass auch 2020 noch kompetente und hochmotivierte Frauen wie sie offenbar kaum gegen die Hürden eines „men-only“ Berufsumfeldes ankommen. Ein ernüchterndes – und ermutigendes – Fazit zugleich.
Lesenswert!
Herzlichen Gruß, Sarah (mutter-und-sohn.blog)
Dilek Gürsoy: Ich stehe hier, weil ich gut bin. Eden Books, Berlin 2020
[Fotos: Eden Books, Operation Karriere, HerCAREER. ich danke dem Verlag für das zu Verfügung gestellte Rezensionsexemplar. Der Beitrag gibt dennoch ausschließlich meine persönliche Meinung wieder und ist keine beauftragte Werbung.]
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