Gesellschaft, Hochsensibilität, Persönliches

„Welche Brille trägst du?“ Was unser Blick auf die Welt bewirkt

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1991 beschrieb der Soziologe und Philosoph Paul Watzlawick ein seltsames Phänomen:

In den Fünfzigerjahren bemerkten immer mehr Einwohner der amerikanischen Stadt Seattle kleine Kratzer an den Windschutzscheiben ihrer Autos.

Bald waren unter den Menschen zwei Theorien zur Entstehung der Kratzer entstanden: Für die Vertreter der „Fall-out-Theorie“, geprägt durch die Berichterstattung des Kalten Krieges, waren die Kratzer das Ergebnis von radioaktiven Niederschlägen, die von russischen Atomtests verursacht wurden, für die Vertreter der „Asphalt-Theorie“ waren die Kratzer das Ergebnis einer Veränderung des Straßenbelags durch umfangreiche Baumaßnahmen.

Weil die Aufregung in der Stadt so groß war, wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt. Diese kam zu einem ganz anderen Ergebnis. Statt die beiden Theorien zu untersuchen, prüfte die Kommission zuerst, ob es überhaupt eine Zunahme an Kratzern auf Windschutzscheiben gab.

Und das Ergebnis war: Es gab keine.

Wie aber kamen die Einwohner zu ihrer Wahrnehmung? Als die Berichterstattung über zerkratzte Windschutzscheiben zunahm, prüften immer mehr Menschen die Scheiben ihrer Autos. Dazu starrten sie sie von außen aus nächster Nähe an, statt wie sonst von innen durch sie hindurchzusehen. In der Erwartung, Schäden zu entdecken, sahen die Menschen aus ihrem eigens dazu eingenommenen Blickwinkel Kratzer, die gewöhnlich bei jedem Auto vorhanden sind, die sie aber vorher nie wahrgenommen hatten. Die Aufregung in Seattle war also weder das Ergebnis von Atomtests noch von Baumaßnahmen, sondern das Resultat von auf der Suche nach Schäden angestarrten Windschutzscheiben.

Vielleicht sollten wir manchmal eher unsere Perspektive überprüfen, als über den „Wahrheitsgehalt“ einer Angelegenheit zu streiten.

Mir kommt das in den Sinn, wenn ich über zwischenmenschliche Beziehungen im Familien- und Freundeskreis nachdenke, ebenso wie – im größeren Rahmen – über die Art, wie wir z.B. Menschen begegnen, die aufgrund von Kriegen und religiöser Verfolgung oder auch einfach „nur“ aufgrund wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit nach Deutschland geflüchtet sind.

Schauen wir durch die Brille der Angst, die Brille des Vorbehalts – oder durch die der Zuversicht und der hoffnungsvollen Erwartung? Je nach Perspektive werden wir die „Kratzer auf der Scheibe“, die in wirklich jeder Situation und Beziehung zu finden sind, ganz anders deuten.

In diesem Sinn herzliche, weihnachtliche Grüße euch allen! Ich danke Birgit Boukes dafür, dass sie mich auf die oben  zitierte Parabel aufmerksam machte, die mich zu diesem Beitrag anregte.

Sunnybee

alleinerziehend, Partnerschaft, Persönliches

Lego your Ego – Vom Segen, nicht „Recht“ zu haben

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Kürzlich telefonierte ich mit dem Vater meines Sohnes – und auf einmal unterhielten wir uns über unsere, vor etwa einem Jahr beendete, Beziehung.

„Wir waren wie Feuer und Öl“, meinte mein ehemaliger Freund: „Öl belebt die Flammen, aber passt man nicht auf, verursachen die beiden ruckzuck einen Flächenbrand…“ Unwillkürlich dachte ich an Momente der Nähe und „feurige“ Leidenschaft – aber eben auch an hitzige, Leid schaffende Diskussionen. Und lachend, wenn auch mit einer Spur Wehmut im Herzen, musste ich ihm Recht geben.

Wer hat Recht?

Tatsächlich hatten sich unsere Streitigkeiten oft daran entzündet, wer von uns ‚Recht’ hatte – bei Themen, bei denen es eigentlich kein Falsch und Richtig gab: wie laut und wild sollte der eine abends noch mit unserem Sohn durch die Wohnung toben? Hatte der andere das ‚Recht‘ auf Ruhe oder sollte er sich nicht so „anstellen“? Was, wenn das freudig erwartete Essen zu dritt in die Binsen ging, weil unser Kleiner, aufgedreht, wie er abends war, lieber mit Nudeln um sich schmiss, als sie zu essen? Gab es ein ‚Recht‘ auf Zweisamkeit, auf Erholung, ungeteilte Aufmerksamkeit, Unterhaltung?

Im Rückblick kann ich mir kaum noch erklären, warum wir so erbittert stritten. Am ehesten wohl, weil uns irgendwann das Gefühl abhandenkam: hier achtet der andere, was ich für unsere Partnerschaft und Familie tue, hier werde ich geschätzt wie ich bin und darf sein, wie es mir entspricht. Statt „Wir gegen die Welt“ wurde unsere Beziehung ein „Wir gegeneinander“. Eine bittere Erfahrung und sicher ein Grund unseres Scheiterns.

Lego your Ego

Vor wenigen Tagen bin ich an oben abgebildeter „Straßenkunst“ vorbeigekommen: „Lego your Ego – Mehr Liebe“. Ich musste lächeln, zückte meine Kamera – das Ergebnis seht ihr hier! Und ich blieb stehen mit dem Gedanken: was für eine große Aufgabe, statt Recht haben zu wollen immer wieder wahrzunehmen: darum geht es mir eigentlich! Das Bedürfnis hinter den Fragen, Vorwürfen, Forderungen: „Warum tust du…?“ „Immer machst du…!“ „Nie willst du…!“ Was erhoffe ich mir tief innen dadurch? Anerkennung? Sicherheit? Unabhängigkeit?

Vielleicht hilft ein Augenzwinkern, um das Ego zumindest zeitweilig auf Legomännchengröße zu schrumpfen. Um wieder zu erkennen: Darum geht es eigentlich! Das wünsche ich mir, danach sehne ich mich – und was kann ich, gegebenenfalls auch ohne den anderen, tun, um mir diese Sehnsucht zu erfüllen?

„Mehr Liebe“ – und nicht der Kampf um’s Recht, wo es gar kein Falsch und Richtig gibt.