
Mein Wunsch in der aktuellen Zeit, die ich durchaus als krisenhaft empfinde, ist, mein Herz offen zu halten. Was ich damit meine? Ich erlebe oft, dass ich, wenn ich mich von äußeren Ereignissen bedrängt fühle, dazu neige, mehr und mehr nur noch meine eigene Sichtweise gelten zu lassen. Das tue ich auf persönlicher Ebene und betrachte ich unsere reiche, sichere und begünstigte Gesellschaft, habe ich den Eindruck, es geht nicht nur mir so. Dabei spiegelt das, was ich im Außen sehe – oder wahrzunehmen meine – oft nur mich selbst.
Ich öffne mein Herz…
Ich möchte daher mein Herz öffnen dafür, dass ich in einer wohlhabenden westlichen Industrienation lebe mit (weitgehend) funktionierendem Gesundheitssystem, einer in großen Teilen demokratischen Gesellschaft, mit der Möglichkeit, meine Meinung frei zu äußern, meinen Kindern ärztliche Versorgung zukommen zu lassen, wenn sie sie brauchen und ich selbst sein zu dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich bin dankbar.
Dafür, dass es immer mehr als eine Sichtweise gibt. Jetzt, im Rahmen der Covid-Pandemie, wird das für mich wieder sehr deutlich. Es macht einen großen Unterschied, ob ich Menschen kenne, die an dem Virus erkrankt sind und mit dem Tod ringen mussten, oder ob ich es in der Version „leichte Erkältung“ erleben durfte. Es macht einen Unterschied, ob ich in der Stadt lebe, wo Menschen dichter gedrängt leben und zum Teil strengeren Beschränkungen ausgesetzt sind, oder auf dem Land. Ob ich wohlhabend bin, einen Garten besitze, eine umfassende Bildung und die Fähigkeit und Zeit, mich für mich und meine Lieben einzusetzen. Oder ob es mir an all dem mangelt. Je nach meiner Lebenssituation sehe ich vermutlich vor allen den Teil der Welt, der mich betrifft – was auch meine Meinung über sie formt. In der Sozialpsychologie nennt man das „Cognitive Bias“: die Tendenz, Information, die dem eigenen Weltbild entsprechen, stärker wahrzunehmen, als solche, die diesem widersprechen. Warum wir dieser „gedanklichen Verzerrung“ oft nur zu gerne nachgeben? Weil sie die Widersprüchlichkeit der Welt leichter erträglich macht.
Ich möchte auch mein Herz öffnen dafür, dass Komplexität ein Geschenk und keine Bedrohung ist. Daher schätze ich es sehr, andere Sichtweisen (wie zum Beispiel diese einer Krankenschwester auf der Kinder-Intensivstation) kennen zu lernen. Am liebsten in einer Form, die ohne dogmatisches „So ist es richtig“ auskommt. Andererseits bin ich mir sehr bewusst, dass auch ich andere Sichtweisen oft nur widerwillig toleriere. Wer einmal seinem Partner vorgeworfen hat, „so anders“ zu sein, weiß, dass die (negative) Wertung oft nicht weit ist, wenn mich etwas irritiert.
Ich will mein Herz dafür offen halten, dass Irritation etwas Gutes ist. Wie alles, was meine allzu große Gewissheit in Frage stellt. Unklarheit und Veränderung macht uns verständlicherweise Angst. Aber oft ist die Veränderung (mit aller sie begleitenden Ungewissheit) auch das „Einfallstor“ für das Neue, das eben ansteht. Und sehr oft entsteht Gutes, wenn wir mit dem Leben mitgehen, statt uns gegen es zu stemmen. Was in uns wachsen will, drängt ohnehin nach draußen. Es kostet uns nur mehr Kraft, wenn wir versuchen, es zurückzuhalten.
Was sagt mir die Art, wie ich das Außen erlebe, gerade über mich?
Bin ich wütend? Ängstlich? Trotzig? Fühle ich mich in meiner Freiheit eingeschränkt? Fühle ich mich diffus bedroht? Zweifle ich an meiner Kraft? Fühle ich mich einsam oder getragen? Fühle ich mich mit anderen verbunden, oder habe ich den Eindruck, jeder kämpfe gerade nur für sich? Wittere ich Verrat und Komplott oder sehe ich Situationen, in denen mir Aufrichtigkeit, Mitgefühl und Solidarität begegnen?
Das Außen kann mir all diese Wahrnehmungen bieten, oft sogar parallel oder kurz hintereinander. So, wie sich der Himmel im Wasser spiegelt und dieses bei Sonnenschein blau und klar, bei Regenwetter aber grau erscheint, so mag sich mein Bild von der Welt entsprechend meines inneren Bildes von ihr verändern.
Darum möchte ich mein Herz zuletzt offen halten für die Hoffnung. Die Liebe. Für die Neugier auf meine Mitmenschen. Für das Vertrauen, dass ihr da draußen gut seid und dass meine Kinder, die ich gerade jetzt in diese Welt geworfen habe, auch in dieser Welt Gutes für sich und für andere finden werden. Ich bin sicher, auch dieses Vertrauen wird mir gespiegelt.
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie wir sind.“ (Anais Nin)
Herzlich alles Gute euch an diesem Sonntag!
Sarah