
„Keine Zeit!“ Als Eltern scheint uns die Zeit oft zwischen den Fingern zu zerrinnen. Laura Städtler vom Blog insociallife.com schreibt in ihrem Gastbeitrag, was sie während der letzten Monate über sich und ihren Umgang mit der Zeit erfahren hat. Herzlichen Dank für diesen bewegenden Bericht aus eurem (Familien-) Leben, Laura! Aber lest selbst:
Seit längerem möchte ich diesen Beitrag schreiben. Doch ich fand keine Zeit dafür. Was ich aber in der Zeit während der Erstellung dieses Textes feststellte: Zeit verliert man, während man danach sucht.
Unser Familienleben
Kurz zu mir: Ich bin Mutter von drei Kindern. Baby, Kindergarten-Mädchen und Schuljunge – alles dabei. Während meiner Kindererziehungszeit arbeite ich (nur) im reduzierten Stundenausmaß und kümmere mich um den Haushalt.
Mein Sohn ist fast acht Jahre alt, er verfügt über eine erhöhte Intelligenz, hat sehr ausgeprägte Spezialinteressen und kann sich verbal ausgezeichnet ausdrücken. Leider ist er nicht in der Lage, äußere Einflüsse adäquat zu verarbeiten und ist wegen der Menge an Eindrücken, die auf ihn unverarbeitet einprasseln, in Alltagssituationen überfordert. Für mich ist er wunderbar. Seine Lehrerinnen empfinden ihn als anstrengend. Fachleute bezeichnen ihn als Asperger-Autisten.
Meine mittlere Tochter ist vier Jahre alt und ein ganz normales Mädchen. Allerdings hatte sie einen schweren Start ins Leben. Aufgrund einer angeborenen Erkrankung wurde sie mit sechs Monaten lebertransplantiert. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten entwickelte sie sich so gut, dass sie prinzipiell ein Leben ohne Einschränkungen führt – abgesehen von der täglichen Medikation, die sie einnehmen muss, damit ihre neue Leber nicht abgestoßen wird. Ihr natürliches Immunsystem wird dadurch unterdrückt.
Als wir uns dann 2019 auf unser drittes Kind freuten, entschied ich mich bewusst dafür, nach der Geburt solange wie möglich zuhause zu bleiben. In erster Linie hatte ich endlich die Möglichkeit ein krankenhausfreies Leben mit Baby zu genießen. Zusätzlich kam meine Mittlere in den Luxus, in Zeiten von Kinderkrankheiten-Epidemien und Grippesaisonen bei Bedarf zuhause bleiben zu können. Im Frühjahr 2020 war es dann endlich so weit, unsere rundum gesunde Tochter erblickte das Licht der Welt. Zwei Wochen nach ihrer Geburt ging dafür in ganz Österreich das Licht aus – wir befanden uns mitten im ersten Lockdown.
Entschleunigung im Lockdown
Groteskerweise genossen wir diese Pause. Die Entschleunigung. Die großen Kinder konnten morgens zuhause bleiben, ich ersparte mir täglich zwei Stunden Zeit für Kindergarten- und Schulfahrten. Musste nicht am Straßenrand stehen bleiben, um das weinende Neugeborene zu stillen. Ich erfuhr im Wochenbett die so wichtige Unterstützung meines Lebensgefährten. Auch er arbeitete in dieser Zeit nicht und konnte sich voll und ganz der Familie widmen. Mein Sohn mochte das Homeschooling. Aufgrund seiner Konstitution erlebte er die schulische Eins-zu-eins-Betreuung als Bereicherung, auch wenn nicht immer alles nur perfekt und geordnet ablief.
Leider fand er nach dem Lockdown nicht mehr in den gewohnten Schulalltag zurück und obwohl in diesen sieben Wochen ganz Österreich stillstand, verstrichen mysteriöserweise trotzdem die zeitlichen Fristen für eine hilfreiche Unterstützung (z.B. Assistenz) in der Schule. Somit hangeln wir uns jetzt von Woche zu Woche. Neben den Hausaufgaben arbeiten wir das zu Hause nach, was er in der Schule nicht registriert und probieren mit einer Konzentrationstherapie und vielen Gesprächen, dass das Ruder wenigstens der Gegenströmung standhält, denn Rumreißen ist unmöglich.
Zurück im Hamsterrad
Und nicht nur ihn holte der Alltag auf den steinigen Boden der Tatsachen zurück – wir alle sind wieder voll in unser Hamsterrad zurückgekehrt. Mein Lebensgefährte arbeitet mehr als Vollzeit, ist am Abend müde und gestresst. Zeit ist halt Geld. Die Mittlere ist nun schon die dritte Woche zuhause, die Corona-Lage veranlasst uns zur Vorsicht. Sie möchte mit mir gemeinsam Knetfiguren formen, Klavier lernen, Schnitzel panieren, einen Zopf geflochten bekommen und natürlich noch sehr viele andere Dinge.
Das Baby hat mittlerweile gelernt aufzustehen, paradoxerweise aber noch nicht niederzuknien. Wenn ich mit dem hingefallenen, weinenden Baby am Arm, zwischen den Schularbeiten des bockigen Schulkindes und den Papierschnipseln meines bastelwütigen Kindergartenkindes noch ein Quäntchen Zeit finde, ist es für Hausarbeit und Kochen reserviert.
Unter dem Gewicht der zu erledigen Dinge, wundert es nicht, dass spätestens um 19 Uhr unsere verschiedenen Alltäglichkeiten zusammenbrechen. Gerädert bringe ich praktischerweise alle drei Kinder gleichzeitig ins Familienbett und wenn sie eingeschlafen sind stehle ich mich davon, um noch zu arbeiten. Wenigstens zehn Stunden wöchentlich im Homeoffice sollten machbar sein. Wenn ich ehrlich zu mir selber bin, empfinde ich dieses Lebensmodell als unbefriedigend. Noch unzufriedener macht mich die Tatsache, dass sich dieses Gefühl auf den Rest der Familie übertragen hat.
„Zeit ist, was wir aus ihr machen“
Nur mein Sohn scheint immun dagegen zu sein. Obgleich seiner Besonderheit, ist er ein sehr glückliches Kind. Darüber bin ich unendlich froh. Und obwohl, oder gerade weil, das Thema (Raum und) Zeit zu seinen Spezialgebieten zählt, sieht er die Dinge anders als wir. Wenn ich ihn morgens gestresst zurecht stutze, weil wir wegen des vergessenen Mund-Nasen-Schutzes auf dem Schulweg kehrt machen müssen, erklärt er mir mit einer stoischen Entspanntheit, wir hätten genug Zeit. Denn das, was ich auf der Uhr ablese, seien Stunden, Minuten und Sekunden. Aber keine Zeit. Denn Zeit sei das, was man daraus mache. Ich müsse einfach schneller fahren.
Fast war ich versucht, dergleiche Meldungen als Provokation zu werten. Bis in der letzten Woche die große Wendung kam. Ich stieß auf einen Zeitungsartikel, der mich unglaublich berührte. In ihm wurde über das unerträgliche Schicksal einer Familie, wie sie unsere sein könnte, berichtet. Drei Kinder, Mutter, Vater. Der zehnjährige Sohn starb Ende 2019 an einen Gehirntumor, der Vater folgte ihm zwei Monate später, er erlag seinem Lungenkrebsleiden. Während die Mutter ihre Männer zu Grabe trug, erhielt sie die Diagnose Brustkrebs – nach 17 Chemotherapiezyklen und der beidseitigen Mastektomie wurde sie trotz anfänglich schlechter Prognose als krebsfrei erklärt. Die Erleichterung hielt nur kurz an. Ein paar Wochen nach der guten Nachricht schlug das Schicksal wieder unbarmherzig zu. Der mittleren Tochter wurde ebenfalls ein unheilbarer Gehirntumor attestiert, ihr bleiben wohl nur noch einige Wochen zu leben. Die Geschichte von einer Familie, die nach und nach verschwindet. Von der, im besten Fall, nur die Mutter und die kleinste Tochter übrig bleiben werden.
Leben in der Gegenwart
Zeit ist also doch nicht Geld. Zeit ist eine viel härtere Währung. Denn wir wissen niemals, wie viel wir davon letztendlich haben. Und wenn ich hier noch einmal meinen Sohn zitieren darf – es gibt eine Vergangenheit (Anmerkung von mir: die von unseren Erinnerungen lebt), eine Gegenwart, aber keine Zukunft. Denn die Zukunft existiert nur in unserer Vorstellung. Das, was wir erleben, ist immer die Gegenwart.
Worte, die ich mir am liebsten auf die Stirn tätowieren möchte. Damit ich danach handle und sie niemals wieder vergesse. Denn obwohl ich die Erfahrung machen musste, das Leben meiner Tochter an einem seidenen Faden hängen zu sehen, habe ich das Gefühl der Verzweiflung verdrängt. Die Zeit und das Leben, dass uns geschenkt wurde, sehe ich als zu selbstverständlich an. Setze die Prioritäten nicht immer richtig.
Ich habe mich nicht für Kinder entschieden, weil ich ein paar Maschinen mehr Wäsche in der Woche haben möchte. Und auch nicht, damit ich zusätzliche Zimmer zum Aufsaugen habe. Ich habe mich für Familie entschieden. Für ein gemeinsames Leben. Und natürlich habe auch ich nicht die Möglichkeit, den ganzen Tag zu basteln. Aber ich kann die Geduld haben, mit meiner Tochter gemeinsam zu kochen. Ihr zuhören, wenn sie mir aus ihrer Welt erzählt. Statt das immer wiederkehrende Chaos am Boden wegzuräumen, mich mitten rein setzen und das Baby bei seinen Aufsteh-Versuchen stützen. Und wenn vor lauter unerledigter Schulaufgaben nichts mehr geht, weil es einfach zu viel ist, meinen Sohn in den Arm nehmen und es einfach mal sein lassen. Das Heft zuklappen, das Schachbrett aufbauen. Oder die Kinder schnappen und gemeinsam durch die Wälder streifen, uns an den Händen halten, die Köpfe von der frischen Luft durchlüften lassen und unsere Akkus für den Alltag laden. Am Abend einfach mal bei ihnen liegen bleiben und ihren Duft inhalieren.
Denn was Zeit und Geld doch gemeinsam haben – investieren wir richtig, bekommen wir davon wieder mehr zurück.
Wer schreibt hier?
Laura ist nach eigener Aussage Mutter von drei wundervollen Kindern. In ihrem Blog insociallife.com schreibt sie über Themen, die Familien, Frauen und Mittdreißiger betreffen, aber auch über Organtransplantation – behandelt werden vor allem Dinge, die gerne unausgesprochen bleiben würden. Neben dem Leben als Mutter, Frau und Mensch, ist sie beruflich in der IT- und Werbebranche tätig.
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Eine großartige Leistung!
Ein Kraftakt, gespeist von grenzenloser Liebe.
Liebe Laura, mit großer Achtung und mit viel Freude lese ich deine lebendigen Berichte aus eurem Familienleben, aus einen ganz normalen Familienalltag mit all seinen sehr speziellen Anforderungen. Deine Erzählungen – vom Familienbett bis zum Chaos auf dem Fußboden – könnten aus meiner Zeit mit unseren vier Kindern stammen.
Dass du in der Nacht noch einer beruflichen Tätigkeit nachgehst, das stelle ich mir „Überdrüber“ vor.
Ich möchte dir gerne sagen: Vergiss dich selber nicht. Achte auf dich.
Liebe Grüße, Elsa
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Liebe Elsa, danke für dieses tolle Feedback – das freut Laura sicherlich! 🙂 Ich schätze ihre Blogbeiträge auch sehr, deshalb freue ich mich auch, Laura hier als Gast zu haben. Lieben Gruß, Sarah
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