
Das Konzert war für den 6. November geplant. Ein guter Freund, freier Musiker, bereitete sich seit Wochen darauf vor. Die Einnahmen sollten der deutschen Gesellschaft für Muskelkranke zukommen. Ende Oktober dann die Nachricht des Veranstalters: Abgesagt. Seit dem 2. November gilt in ganz Deutschland der Teil-Lockdown – oder „Lockdown light“, wie an manchen Stellen zu lesen ist. Das klingt irgendwie harmlos: wir fahren das soziale Leben runter, aber nur so ein bisschen. Nochmal ein paar Monate die Zähne zusammenbeißen, dann haben wir dem bösen Virus, dessen Namen inzwischen jedes Kita-Kind kennt, endgültig ein Schnippchen geschlagen. Tja. Ist nur wohl leider nicht so.
Teil-Lockdown, oder eben „Lockdown light“, bedeutet de facto, dass von einem Tag auf den anderen ganze Berufsgruppen (Gastronomen, Theaterbetreiber*innen, freischaffende Künstler*innen etc.) massiv in ihrer Arbeit eingeschränkt werden und schmerzhafte Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Monatelang geplante Veranstaltungen und Projekte fallen aus oder werden zumindest auf unbestimmte Zeit verschoben. Für Künstler*innen aus der Kleinkunstszene und Inhaber*innen kleinerer Cafés und Restaurants wird das rasch existenzbedrohend. „Vorerst bis Ende November“, „Erstattung von bis zu 75 Prozent der verlorenen Einnahmen“ – beschwichtigende Parolen, die diesen erneuten massiven Eingriff in das Leben von Millionen Menschen begleiten. Die Sicherheit aller rechtfertige das Vorgehen, so Bundeskanzlerin Merkel bei einer Pressekonferenz Mitte letzter Woche: Die steigenden Infektionszahlen erforderten „harte Maßnahmen“.
Wir bleiben gelassen…
Vor einem Jahr noch wäre bei einer solchen Entscheidung der Bundesregierung vermutlich ein Aufschrei durch Deutschland gegangen. Jetzt zucken nicht wenige die Schultern, bzw. sind, als Vertreter des (noch) nicht geschlossenen Einzelhandels oder als Eltern schulpflichtiger Kinder, heimlich froh, zumindest vorerst von den Maßnahmen nicht betroffen zu sein.
Aber ist dieses Stillhalten und auf bessere Zeiten Hoffen der richtige Weg im Umgang mit einer Pandemie, die uns vermutlich noch mehrere Jahre lang begleiten wird? Covid-19 wird als Krankheitserreger ja nicht Ende November oder im kommenden Frühjahr verschwunden sein. Und dann? Weitere „Teil- und Komplett-Lockdowns“ und „Lockerungen“, parallel zu abwechselnd steigenden und sinkenden Infektionszahlen?
Kein dauerhafter Ausnahmezustand
Eine „neue Normalität“ kann und darf meiner Meinung nach nicht aus einem solchen latenten Ausnahmezustand bestehen. Bereits jetzt stellen sich viele Eltern die Frage: wie soll ich finanziell kalkulieren, wenn ich z.B. als Selbstständige nicht weiß, ob meine Einnahmen sich aufgrund der Maßnahmen im kommenden Monat von einem Tag auf den anderen halbieren werden? Wie soll ich mich beruflich auf eine bestimmte Arbeitszeit oder die Übernahme von Projekten festlegen, wenn es sein kann, dass ich bald wieder mit zwei Kindern im Schul- oder gar Vorschulalter zuhause sitze und sehen kann, wie ich das mit meinen beruflichen Aufgaben vereinbare? Und wie werde ich meinen Kindern gerecht, die – ebenfalls von einem Tag auf den anderen – aus ihren gewohnten Strukturen gerissen werden und auf ihr, eigentlich garantiertes, Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Frühförderung womöglich wieder für Wochen verzichten müssen?
Auch die Inkongruenz und Widersprüchlichkeit vieler Maßnahmen erzeugt selbst bei denjenigen, die diese gar nicht grundsätzlich in Frage stellt, inzwischen Kopfschütteln. Wie sinnvoll ist die jetzige komplette Schließung von Gaststätten und Hotels für Urlauber, nachdem zwei Monate zuvor, ebenfalls noch mitten in der Pandemie, fröhliches Reisen kreuz und quer durch Europa zur Rettung der Hotellerie und der Reiseanbieter politisch durchaus erwünscht war? Oder ergibt z.B. eine vierzehntägige Quarantäne für alle Kinder einer Klasse, in der ein Mitglied positiv getestet wurde, Sinn, wenn die Eltern dieser Kinder zeitgleich weiter ihrer Arbeit außer Haus nachgehen? Sollten ihre Kinder, die derweil putzmunter das Haus auf den Kopf stellen, doch noch positiv getestet werden oder gar erkranken und die Eltern ebenfalls einen positiven Test erhalten, können dann wiederum die Arbeitskolleginnen und -kollegen in Quarantäne gehen…
Wie sinnvoll ist das alles und wie lange soll es noch dauern?
Das „Fahren auf Sicht“, das aktuell das Vorgehen gegen die Pandemie zu bestimmen scheint, kann definitiv nicht endlos weitergehen. Eine breite gesellschaftliche Akzeptanz ist unerlässlich, um große Teile der Bevölkerung dauerhaft zu Maßnahmen wie den AHA-Regeln und zu gegenseitiger Rücksichtsnahme zu motivieren. Zu großer Druck durch Einschränkungen und Verbote, parallel mit einer gewissen Unberechenbarkeit politischer Entscheidungen ist dafür meiner Meinung nach nicht der richtige Weg. Was sollen Theaterbetreiber*innen oder Gastronom*innen davon halten, wenn sie erst mühsam Hygienekonzepte erarbeiten und sich um deren Umsetzung bemühen, um trotz Pandemie ihr Angebot aufrechterhalten zu können und nun auf einmal hören, die Nachverfolgbarkeit der Infektionen sei trotz dieser Konzepte nicht gegeben – daher müssten die Einrichtungen eben wieder komplett geschlossen werden.
In Schulen wird aktuell diskutiert, ob Stoß- oder Querlüften in Herbst oder Winter die Verbreitung des Virus’ effektiver bekämpfe, statt darüber nachzudenken, z.B. die Klassen dauerhaft zu verkleinern und im Schichtbetrieb laufen zu lassen, was nach Meinung erfahrener Lehrerinnen und Lehrer gerade in Brennpunktschulen zu deutlich besseren Unterrichtsbedingungen führen würde (bzw. vor den Sommerferien bereits geführt hat) – und das ganz unabhängig vom Infektionsschutz. Verständlicherweise erzeugt es seitens Pädagog*innen und Eltern Verunsicherung und Ärger, wenn stattdessen die Kinder bei geöffnetem Fenster dicht an dicht mit Masken in Klassenräume sitzen und, falls eines von ihnen positiv auf Corona getestet wird, als komplette Gruppe 14 Tage zuhause bleiben müssen. Wer betreut die Kinder und Jugendlichen währenddessen zuhause? Und wer hilft gerade den jüngeren unter ihnen bei der Bearbeitung der digital verschickten Aufgaben? Das bleibt letztlich Privat-, bzw. Elternsache. Glücklich ist, wessen Eltern Zeit, Interesse und die entsprechenden Fähigkeiten mitbringen, um ihren Nachwuchs beim Homeschooling zu unterstützen. Wer über diese Ressourcen seitens der Familie nicht verfügt – Pech gehabt.
Anpassen ist nicht immer der sozialste Weg
Wir Menschen sind offensichtlich enorm anpassungsfähig. Maskenpflicht, Abstandsregelungen, Hygienevorschriften – es hat kaum ein halbes Jahr gedauert und wir zucken zusammen, wenn sich zwei Menschen auf der Straße umarmen. Vieles, was uns noch im Januar diesen Jahres abwegig bis absurd vorgekommen wäre, nehmen wir jetzt als gegeben hin. Begriffe wie Quarantäne, Infektionstreiber oder Corona-Hot Spot gehen uns ohne Probleme über die Lippen und mein Kind sagt zu mir, ich solle ihm nicht zu nahe kommen, es habe Schnupfen.
Aber bloß, weil wir uns anpassen können, heißt das nicht, dass das der beste – oder gar sozialste – Weg ist. Ich denke, Schulen und Kitas sollen bei der aktuellen Pandemiewelle auch deshalb nicht flächendeckend geschlossen werden, weil so viele Eltern im Frühjahr nach der ersten Überforderung genau dagegen entschlossen protestiert haben. Studien zum Infektionsgeschehen in Kitas und Schulen liegen jetzt vor und wurden bei den aktuellen Entscheidungen offenbar berücksichtigt. Die Situation Alleinerziehender ist endlich in den Blick der Öffentlichkeit gerückt, und es wird nach Möglichkeiten gesucht, Homeschooling und digitales Lernen tatsächlich für alle Kinder zugänglich zu machen und halbwegs sozial gerecht zu gestalten.
Hier wurden erste Schritte getan, aber es müssen noch viele weitere folgen: Konzepte, wie Eltern und Kinder während der Quarantäne-Zeit oder der tatsächlichen Erkrankung von Familienmitgliedern durch Kitas, Schulen und Arbeitgeber praktisch (und nicht nur finanziell) unterstützt werden können. Ideen, wie bei digitalem Unterricht nicht nur Noten vergeben, sondern auch Kinder und Jugendliche mit geringen Sprachkenntnissen oder schwierigem sozialem Hintergrund gefördert werden können. Schließlich deutlich mehr Berechenbarkeit bei der Umsetzung einschränkender Maßnahmen (insofern diese denn weiter nötig bleiben werden). Weiß ich als Kulturschaffende*r z.B., dass in den infektreichen Wintermonaten höchstwahrscheinlich kaum noch Präsenzveranstaltungen erlaubt sein werden, kann ich mir kreative (digitale) Alternativen und Einkommensquellen überlegen. Hierfür brauche ich aber einen gewissen Vorlauf und kein Hoffen „dass schon alles gut gehen wird“ mit anschließender Ankündigung nur wenige Tage vor Beginn der Maßnahmen.
Wie wollen wir langfristig mit Bedrohungen wie Corona umgehen?
Über den praktischen Umgang mit politisch auferlegten Beschränkungen zum Schutz vor Corona hinaus sollten wir uns meiner Meinung nach fragen, wie wir überhaupt auf lange Sicht mit potentiellen Bedrohungen wie dem Covid 19-Erreger umgehen wollen. Wieviel Sicherheit können wir uns durch gesellschaftliche Beschränkungen „erkaufen“? Was wird eine Mehrheit der Bevölkerung dauerhaft – und nicht nur als Ausnahmezustand – mittragen? Und immer wieder die Frage: wieviel Beschränkung ist zum Schutz einer großen Mehrheit tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig? Diese Fragen müssen meiner Meinung nach möglichst breit diskutiert werden und Grundlage politischer Entscheidungen bleiben. Damit wir dauerhaft nicht von Infektionszahlen getrieben werden, sondern tatsächlich vorausschauend, mit Augenmaß und Eigenverantwortung handeln können. Auch in Zeiten der Pandemie.
Sarah (mutter-und-sohn.blog)
Die Autorin dieses Beitrags ist Lehrerin in der Erwachsenenbildung, freie Autorin und Mutter zweier Kinder im Baby- und Kindergartenalter.
[Foto: Pixabay]
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Ich denke, mit Blick auf die vielen anderen betroffenen Länder versucht die Politik, die Schäden so gering wie möglich zu halten, in jeder Hinsicht. Es ist eine Gratwanderung. Aber Politik, Verwaltung kann nicht alles. In einer Pandemie ist jeder Einzelne gefordert. Im Grunde ist sie beherrschbar, wenn alle mitziehen.
Aber wie sieht es mit anderen Herausforderungen, wie dem Klima aus? Wir haben als Gesellschaft wenig Zeit uns darauf vorzubereiten.
Für mich der wichtigste Punkt ist Empathie, nur als Solidargemeinschaft lassen sich große gesellschaftliche Krisen meistern, Egoismus der Individuen beinhaltet ein Scheitern der Gesellschaft.
Problematisch ist, dass die deutsche Gesellschaft geprägt ist durch die Wirtschaft, insbesondere ideologisch. Moral, Ethik, Würde haben sich in den letzten 30-40 Jahren gewandelt. Man darf schauen, wie diese existentiellen Wesensmerkmale sich wandeln.
In Deutschland leben viele Menschen allein, insbesondere ältere Menschen. Das ist in diesen Zeiten eine Herausforderung, womöglich aber einer der Gründe, warum die Fallzahlen in Deutschland so lange auf einem niedrigeren Niveau lagen.
Ich habe kein wirkliches Rezept für diese Pandemie, aber bisher erschließen sich mir die meisten Regelungen. Die Diskurse darüber werden ja mittlerweile fast mit religiösem Eifer geführt.
Ich denke die nächsten drei Wochen werden zeigen, wohin die Reise geht, wie wir in Zukunft weiter mit dem Virus umgehen.
Einen virtuellen Free Hug🌼
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Danke für deinen ausführlichen Kommentar. Mir gefällt der Aspekt der Solidarität, den du ansprichst. Und ich sehe viele Möglichkeiten, wie wir aktuell mit denen solidarisch sein können, die unter den aktuellen politischen Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie tatsächlich leiden. Essen vom lokalen Restaurant liefern lassen, Gutscheine für Veranstaltungen in kleinen Theatern kaufen, Künstler*innen und ihre Arbeiten weiterempfehlen, mit (älteren) Menschen im Alltag ein paar freundliche Worte wechseln (geht auch mit 1,5m Abstand), Familien in Quarantäne fragen, ob sie Hilfe brauchen, Forschung unterstützen, die mehr über Covid-19 herausfindet und damit auch darüber, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll sind und welche nicht. Das nur als ein paar Ideen! Herzlichen Gruß, Sarah
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Ich rechne damit, dass ich meine Kolleg*innen im Homeoffice dieses Jahr nicht mehr sehen werde und das der Lockdown so lange gehen wird, bis die Temperaturen wieder steigen. Sommer 2021 … 😦 Den vorsichtigen „Vorhersagen“, wir werden Weihnachten recht normal feiern können, kann ich keinen Glauben schenken und habe bislang auch keine Zugtickets zur Familie gekauft … Es ist hart, so ehrlich zu sich selbst zu sein und den Hoffnungen nicht nachzugehen. Natürlich ist der Wunsch da, die Familie wiederzusehen, für die Kinder Oma und Opa, Onkels und Tanten, Cousine, Cousin … Weihnachten ist ja doch immer ein Familienfest, aber dieses Jahr wird es wohl nichts.
Tatsächlich ist meine größte Sorge derzeit, dass KiTas und Schulen geschlossen werden könnten. Welche Stellschrauben hat die Politik außer dieser Option noch in der Hand, wenn die Infektionszahlen immer weiter nach oben klettern? Und die Zahlen werden wahrscheinlich schon steigen, denke ich mir als Laie, denn die „Saison der Krankheiten“ beginnt doch im Oktober/November erst. Höhepunkt dürfte Januar/Februar sein… Also haben wir das Schlimmste noch vor uns.
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Liebe Nadine, das ist ein ziemlich düsteres Szenario, aber ehrlich gesagt teile ich deine Befürchtung, dass mit Ende November noch längst nicht alles ausgestanden sein wird. Umso drängender wird für mich die Frage: können wir auf die steigenden Infektionszahlen wirklich nur durch ein immer weiteres „Herunterfahren“ des sozialen Lebens reagieren? Wie ich in meinem Beitrag schrieb, hat das bereits jetzt konkrete negative Nebeneffekte und ich glaube nicht, dass sich hierfür eine dauerhafte gesellschaftliche Zustimmung finden wird (oder zumindest wird es eine weitere Polarisierung zwischen strikten Befürwortern und Gegnern der Maßnahmen geben). So wird meiner Meinung nach keine Solidarität gefördert, die gerade jetzt dringend nötig wäre, um die zu schützen, die von Corona besonders bedroht sind. Herzlichen Gruß, Sarah
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