Wie oft war ich in den letzten Wochen wirklich bei dem, was ist? Wie oft in Spekulationen über die Zukunft, in Reflexionen über Vergangenes verstrickt? Präsenz bei dem, was ist, anstelle dessen, was ich lese, höre, was andere sagen, was vielleicht, eventuell, möglicherweise geschieht. „Heute war ich draußen und möchte dir berichten, was ich erlebt habe. Ich habe mir nämlich vorgenommen, vornehmlich wahrzunehmen und zu beobachten, was in meinem realen Umfeld geschieht.“ Das schreibt mir meine Mutter vor wenigen Tagen. Kluge Frau.
Freiheit und Sicherheit sind nur scheinbar ein Gegensatz
Vor zwei Wochen habe ich in einem meiner Blogbeiträge („Die Psychologie der Maske“) über die Pflicht geschrieben, ab sofort eine „Alltags-Maske“ in Geschäften und an anderen öffentlichen Orten zu tragen und dass mich der politische Prozess, in dem es zu dieser Entscheidung kam, in hohem Maße irritierte. Heute ist die Maske in Supermärkten und Geschäften schon fast Teil unseres Alltags geworden. Ist sie wirklich sinnvoll, was ja durchaus sein kann, gaukelt sie uns nur ein Gefühl der Sicherheit vor – oder bräuchten wir sie vielleicht gar nicht, da gar keine Gefahr (mehr) besteht? Wer weiß es zum jetzigen Zeitpunkt schon. Und wer fragt noch danach?
Vor nur zwei Wochen erhielt der Beitrag eine Resonanz wie wenige zuvor. Dabei nahm ich wahr, welche Polarisierung das Thema offensichtlich erzeugt(e). Für die einen stand die Freiheit, für die anderen die Sicherheit aller auf dem Spiel. Das Problem: Beides als Gegensätze zu sehen, greift zu kurz. Die Sicherheit, über ein regelmäßiges Einkommen zu verfügen, sich körperlicher Gesundheit und eines stabilen sozialen Umfelds zu erfreuen, gibt uns erst die grundlegende Freiheit, uns Themen zuzuwenden, die über die Erfüllung unserer Grundbedürfnisse hinausgehen. Kunst und Kultur, soziale Gerechtigkeit und politische Mitbestimmung geraten nicht umsonst in Bedrängnis, sobald wir uns essentiell bedroht fühlen. Die Freiheit, diese Bereiche des Menschseins ebenfalls zu leben und damit auch im sozialen Sinn Mensch sein zu dürfen, darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob es uns „gut genug“ dafür geht. Wie ein kluger Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 25.4.2020 es formulierte: „Grundrechte stehen nicht unter einem Demoskopievorbehalt nach dem Motto, als politische Gemeinschaft könnten wir uns doch mehrheitlich einig sein, auf die Ausübung unserer Freiheitsrechte auch einmal kollektiv zu verzichten. Grundrechte sind zunächst immer Rechte der Minderheit. Als Prüfprogramm und Maßstab von Eingriffen verpflichten sie aber auch zu maßvollem, abwägendem Entscheiden.“ Die Freiheit, eben diese Rechte auch in Krisenzeiten ausüben zu können, gibt uns wiederum eine grundlegende Sicherheit: das Vertrauen in die sowohl uns fordernde als auch uns schützende Grundstruktur unserer Demokratie.
Wie Sicherheit finden in einer Situation, die kaum jemand einschätzen kann?
Darüber hinaus lassen sich Freiheit und Sicherheit schwer gegeneinander aufwiegen in einer Situation, die schlicht zu viele Unbekannte für uns bereit hält und damit schwer einschätzbar ist. Wir wissen einfach nicht, wie sich die Pandemie in Deutschland, mit unserer Bevölkerungsdichte und -struktur, unserem Gesundheitssystem und unserem sozialen Kontext ohne jedes Eingreifen entwickelt hätte – und ebenso wenig, wie sie sich jetzt, mit den umfassenden „Lockerungen“, weiter entwickeln wird. Wir versuchen aus Vergangenem (ähnliche Virenformen, Verlauf der Erkrankungswelle in Nachbarländern, frühere Epidemien etc.) Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Diese Form der Kausalität ist uns in westlichen Kulturen in Fleisch und Blut übergegangen: „Wenn A, dann B“. Statistiken, Hochrechnungen, letztlich Vermutungen, die wir doch immer erst im Rückblick als bestätigt oder widerlegt ansehen können. Was uns fast verrückt macht in dieser Kultur der Evaluation, der Einschätzung und Bewertung, ist, wenn sich etwas der Bewertbarkeit entzieht. Hier also ein weitgehend unerforschtes Virus.
Beschränkung eigener Freiheit zum Schutz anderer
„Wir müssen diesem Krankheitserreger mit Entschlossenheit entgegentreten. Nur so retten wir das Leben von Hunderttausenden.“ Unter dieser Prämisse haben wir die letzten Wochen bestritten. Jetzt das genaue Gegenteil: in fast ebenso rasantem Tempo werden die meisten Einschränkungen wieder außer Kraft gesetzt. Was davon ist sinnvoll? Auf welcher Grundlage werden wiederum diese Entscheidungen getroffen?
Beobachten, um das ganze Bild zu sehen
Hier setzt das an, was ich als so klug an der Bemerkung meiner Mutter empfinde: Wenn wir beobachten, was ist, werden wir den Facettenreichtum der Situation wieder erkennen. Einzelhändler und Gastronomen atmen auf, denn sie dürfen ihren Betrieb – unter Auflagen – wieder aufnehmen. Andere, wie Kulturschaffende oder Eltern kleiner Kinder, bleiben weiter stark belastet. Meinem Empfinden nach droht unserer Gesellschaft hier gerade eine weitere „Spaltung“: einerseits in diejenigen, die nur zu gern und so schnell wie möglich wieder an ihren Alltag vor Corona anknüpfen wollen (vielleicht mit Maske vor dem Gesicht, aber mit allen Privilegien wie davor) und in diejenigen, denen das schlicht noch nicht – oder auch gar nicht mehr – möglich ist, entweder, weil die aktuellen politischen Entscheidungen sie nicht im selben Maße begünstigen, oder aber, weil die letzten Wochen für sie konkrete Schäden (finanziell, emotional oder auch körperlich) mit sich gebracht haben, von denen sie sich nun nicht „einfach so“ wieder erholen können.
Hier wünsche ich mir von Menschen, die gewählt worden sind, um uns politisch zu vertreten, dass sie sich in ihren Entscheidungen nicht treiben lassen von einem vermeintlichen „Wunsch der Mehrheit“. Dass sie vielmehr den Blick für die Vielschichtigkeit dieser Situation behalten und gegebenenfalls auch Fehleinschätzung eingestehen, um diese revidieren zu können. Aber auch unpopuläre Entscheidungen weiterhin vertreten, insofern sie sich als tatsächlich wirkungsvoll erwiesen haben. Genau hier ist die Beobachtung gefragt: Echte, umfassende, Sicherheit entsteht meiner Meinung nach, indem wir uns immer wieder erlauben, Fragen zu stellen, einmal Entschiedenes zu überprüfen und dadurch in unserem Handeln konsistent, aber auch flexibel bleiben. Das Gegenteil von Aktionismus.
Was uns im umfassenderen Sinn gesund erhält
Was also schützt uns gerade in einem umfassenderen Sinn? Nicht „nur“ vor Covid-19, sondern auch vor Selbstüberschätzung und selbstgerechter Bewertung anderer oder andererseits vor Angst und Erschöpfung? Was hilft uns in einem umfassenderen Sinn, gesund und handlungsfähig zu bleiben?
Wahrnehmen (und überprüfen), was ist. Die Frage, immer wieder, an mein Gegenüber: Was nimmst du wahr? Vorsicht vor reflexhafter Bewertung. Statt dessen der Blick auf das, was jenseits unseres üblichen Erfahrungsbereiches auch eine Wahrheit sein könnte. Das Wohlwollen, andere und ihre Haltung gelten zu lassen und zugleich die Wachsamkeit, nicht unhinterfragt die Meinung anderer (auch die einer Mehrheit) zu übernehmen. Freundlichkeit. Wirkliche Begegnung. Geduld.
Das sind keine einfachen Antworten. Aber wer hat schon gesagt, dass das Leben diese bietet?
Herzlich, Sarah
[Foto: imago images / Christian Ohde]
Ich meine für mich war und ist Corona ja noch eine Art Übung für unsere Gesellschaft, die wenig Katastrophen in den letzten Jahren zu durchleiden hatte. Die Zukunft hält möglicherweise größere Herausforderungen bereit.
Was ich für mich gelernt habe, Polemik, Sarkasmus, Polarisierung nützen einem in solchen Zeiten wenig. Es benötigt Kreativität, eine konstruktive Form von Gelassenheit, eine Bereitschaft für Neues, neue Herausforderungen, weniger Dogmatismus und einen offenen Umgang sich selbst gegenüber, was die eigene Gefühlswelt angeht.
Angst und Wut gehen oft seltsame Wege. Alles verbunden mit der Gewissheit, dass man nur gemeinsam in der Gesellschaft solche Herausforderungen meistern kann. Ich bin bisher positiv überrascht.
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Danke für deinen Kommentar!
„Es benötigt Kreativität, eine konstruktive Form von Gelassenheit, eine Bereitschaft für Neues […] und einen offenen Umgang sich selbst gegenüber, was die eigene Gefühlswelt angeht“. Ja, das sehe ich auch so und ich bin froh, dass inzwischen wieder die Vielfalt der Bedürfnisse und Perspektiven gesehen zu werden scheint, nachdem in der ersten Corona-Angst und Aufregung der Schutz vor dem Virus einige Wochen lang Priorität vor allem anderen zu haben schien.
In solchen Krisen zeigt sich meiner Meinung nach auch die Stärke einer Demokratie – ebenso wie auch ihre Schwächen, inklusive raschen (medialen) Schuldzuweisungen, einem Wirrwarr an Meinungen und kruden Verschwörungstheorien. Aufmerksam, wachsam und doch grundsätzlich vertrauensvoll bleiben – das sehe ich weiterhin als wichtig an!
Viele Grüße dir, Sarah
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