Beruf, Gesellschaft, Hochsensibilität

Was haben James Bond und Carolin Kebekus gemeinsam? Bericht vom Fachtag „Hochsensibilität bei Schüler*innen“ in Dortmund

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(C) MGM

Am 25.09.2019 besuchte ich in Dortmund einen Fachtag zum Thema Hochsensibilität im Schulalltag („Immer auf Empfang – Hochsensibilität bei Schüler*innen“), den das CJD Dortmund (Christliches Jugenddorfwerk Deutschland e.V.) in Kooperation mit dem Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V organisiert hatte. Dabei erfuhr ich nicht nur, was die Produzenten des letzten „James Bond“ und die Kabarettistin Carolin Kebekus (angeblich) gemeinsam haben, sondern noch einiges Erhellendes mehr.

Begrüßung und Auftakt

Der Fachtag fand in einem modernen Tagungshaus in der Nähe der Dortmunder Universität statt. Ab 8.30 Uhr versammelten sich dort rund 150 Lehrerinnen und Lehrer, VertreterInnen sozialer Einrichtungen, aber auch interessierte „Laien“, Eltern, die mit Blick auf ihre hochsensibel wahrnehmenden Kinder die Veranstaltung besuchten.

Nach der Begrüßung berichtete Birgit Schütte, Leiterin der psychologisch-pädagogischen Beratungsstelle des CJD Dortmund, von ihren Erfahrungen. Ihr Fazit: Schulen gehen unterschiedlich auf die Bedürfnisse hochsensibler Schülerinnen und Schüler ein. Seien diese z.B. aufgrund ihrer intensiveren Reizwahrnehmung und Verarbeitung überdreht oder zögen sich auffällig zurück, komme es zum Teil zu „Fehldiagnosen“ wie ADHS oder gar Autismus. In Wirklichkeit bräuchten die Schülerinnen und Schüler jedoch häufig „nur“ geeignetere Arbeits- und Lernbedingungen, wie z.B. die Erlaubnis, in Stillarbeitsphasen Kopfhörer zu benutzen, sich bei Überreizung in einen dafür vorgesehenen Ruheraum zurückzuziehen oder ihre Anspannung über Bewegung abzubauen sowie ein Umfeld, das ihre Besonderheit der Reizwahrnehmung akzeptiere und die daraus resultierenden Bedürfnisse unterstütze.

Was ist Hochsensibilität eigentlich?

An dieser Stelle möchte ich kurz darauf eingehen, was Hochsensibilität (wissenschaftlich: SPS („Sensory Processing Sensitivity“)) überhaupt ist. Ende der 1990er Jahre prägte die amerikanische Psychologin Elaine N. Aron den Begriff der Highly Sensitive Person, also des hochsensitiven Menschen. Im Grunde ist die Formulierung treffender als der Begriff der Hochsensibilität, der sich im deutschen Sprachraum durchgesetzt hat.

Wer hochsensibel ist, ist nicht notwendigerweise besonders sensibel. Hochsensibilität ist vielmehr eine besonders intensive Form der Reizwahrnehmung und -verarbeitung. Während ein nicht-hochsensibler Mensch sich z.B. auf einer Party mit lauter Musik wohlfühlen mag, überlastet dies eine hochsensibel veranlagte Person oft nach kurzer Zeit. Ein Einkaufsbummel in der belebten Innenstadt, starke Gerüche und laute, sich wiederholende, Geräusche können für hochsensibel wahrnehmende Menschen zur Qual werden. Auch emotionale Reize wie zwischenmenschliche Spannungen oder ein durch Konkurrenz geprägtes Umfeld können Hochsensible stärker als „Normalsensible“ aus dem Gleichgewicht bringen.

Hochsensible Menschen sind jedoch nicht grundsätzlich weniger belastbar. Zwar ist ihr „Filter“ für eingehende Reize weniger ausgeprägt als bei „normalsensiblen“ Menschen. Unter für sie angenehmen Bedingungen können sie jedoch eindrucksvolle Leistungen erbringen. Die Forschung zu Hochsensibilität steht noch am Anfang, allerdings ist bereits heute anzunehmen, dass rund 15-20% der Bevölkerung über das Merkmal der hochsensiblen Wahrnehmung verfügen und damit einen nicht zu vernachlässigenden Teil jeder Schülerschaft und jedes Kollegiums ausmachen.

Was bedeutet dies für das schulische Umfeld?

Die Erziehungswissenschaftlerin und Psychologin Dr. Teresa Tillmann stellte zu diesem Zweck ihre vor kurzem veröffentlichte Dissertation vor. An der LMU München hatte sie zum Thema Gesundheitsprävention für hochsensible LehrerInnen geforscht. Ihr Ergebnis: Hochsensible Lehrerinnen und Lehrer sind grundsätzlich ähnlich belastbar wie weniger intensiv wahrnehmende Lehrkräfte. Allerdings scheinen sie tatsächlich stärker auf ungünstige Arbeitsbedingungen zu reagieren. Lehrkräfte, die gesundheitliche Probleme entwickeln, scheinen die Tendenz zu großem Engagement in Verbindung mit wenig hilfreichen Methoden der Stressbewältigung zu haben. Negative Glaubenssätze („Ich schaffe das nicht“, „Das ist meine Schuld“) und Rückzugstendenzen, statt sich rechtzeitig die benötigte Hilfe zu holen, spielten hierbei eine Rolle.

Gesundheitsprävention für hochsensible Lehrerinnen und Lehrer

Gesundheitspräventation für hochsensible Lehrerinnen und Lehrer – aber natürlich nicht nur für diese – müsse daher schon in der Lehramtsausbildung ansetzen, bei der Vermittlung von Methoden zur Stressbewältigung. Auch ein „Risiko-Check“ für LehramtsanwärterInnen zur Selbsteinschätzung sei denkbar. Für Lehrkräfte, die den Beruf bereits ausübten, könnten bauliche Gegebenheiten wie ein Ruhe- und Stillarbeitsraum, Fortbildungen im Bereich „Stressreduktion und Achtsamkeit“ sowie ggf. reduzierte Arbeitszeiten und ein von Offenheit, Wertschätzung und einer positiven Fehlerkultur („aus Fehlern lernen“) geprägtes Umfeld die Voraussetzung sein, langjährig gesund den Schuldienst ausüben zu können.

Hochsensible Jungen und Männer

Interessant war in diesem Zusammenhang auch der Vortrag Dr. Jacks vom Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität e.V, der nach einer Mittagspause auf den Rollenkonflikt hochsensibler Jungen und Männer einging. Wie er in seinem unterhaltsamen Vortrag darstellte, werde der empfindsame, reflektierte Mann inzwischen offiziell wertgeschätzt, gerade die Popkultur transportiere aber weiterhin das Bild viriler Härte, Aggressivität und sexueller Dominanz, dem hochsensible Jungen und Männer nun einmal eher nicht entsprächen.

Hier kam James Bond ins Spiel, der, wie Dr. Jack betonte, von Daniel Craigh nach einer körperlichen Auseinandersetzung blutüberströmt, aber dennoch weiter kampfbereit dargestellt werde, ebenso wie eben die Kabarettistin Kebekus in einem Bühnenprogramm gefordert habe, echte Männer müssten „dreckig sein und am besten noch irgendwo bluten, vom Schwertkampf, oder so“.

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Carolin Kebekus (C) WDR

Dr. Jack zeigte somit, mit welchem Dilemma Jungen und Männer, die diesem Bild physischer Kraft und Maskulinität nicht entsprechen, konfrontiert sind: Wollen sie als „männlich“ gelten, müssen sie ihre Empfindsamkeit entweder herunterspielen oder aber so tun, als liege in ihr eine besondere Stärke, entsprechend etwa der Aussage, hochsensibel zu leben sei ein „Knochenjob“. Das Ideal der „Härte“ an sich werde dabei nicht hinterfragt.

Echte Kerle tragen (auch) Röhrenjeans

Interessant war Dr. Jacks Vorschlag, ganz neue Maßstäbe zu entwickelt, an denen sich Männer messen könnten. So könne z.B. ein Wettbewerb um soziale Kompetenz oder intellektuelle Fähigkeiten entstehen. Ob dies das Bild des „echten“ Mannes, das die Popkultur transportiere, erschüttern könne, bleibe offen, aber zumindest könne so Gelassenheit gegenüber Rollenerwartungen entwickelt werden, die die Gesellschaft an hochsensible Männer herantrage.

Für das schulische Umfeld bedeutet das wohl, dass gerade Lehrer, die in ihrem Auftreten keine „klassische“ Maskulinität verkörpern, also z.B. eher zurückhaltend und  empfindsam erscheinen, für hochsensible Jugendliche wichtige Rollenvorbilder sein können.

Workshops zu Hochsensibilität in der Schule

Nach viel Input freuten wir uns im letzten Teil der Veranstaltung, selbst aktiv werden zu können. Je nach Interesse hatten sich alle TeilnehmerInnen bei der Anmeldung für einen von drei thematisch unterschiedlichen Workshops angemeldet, die sich mit Hochsensibilität im schulischen Kontext, bezogen auf verschiedene Altersstufen vom Grundschul- bis zum Erwachsenenalter, befassten. Da ich selbst an einer Schule unterrichte, die Erwachsene auf dem zweiten Bildungsweg auf das Abitur vorbereitet, hatte ich den Workshop „Hochsensible Jugendliche – Abschluss und Anschluss“ gewählt.

Was sollten Hochsensible bei der Berufswahl beachten?

Natalie Banek, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover, stellte uns hier ein von ihr entwickeltes Berufsorientierungsprogramm speziell für hochsensible Jugendliche vor. Bei diesen führten die neuen Rollenerwartungen sowie die Informationsflut, die der Berufseinstieg oder der Beginn eines Studiums mit sich bringen, häufiger als bei „Normalsensiblen“ zu Reizüberflutung und damit einen Gefühl der Überforderung. Außerdem sei für Hochsensible besonders wichtig, dass das berufliche Umfeld und ihre Aufgaben mit ihren Wertvorstellungen übereinstimmten und die Rahmenbedingungen der gewählten Tätigkeit für ihre sensible Wahrnehmung grundsätzlich geeignet seien, dass z.B. Raum zur Reflexion, die Möglichkeit echter Pausen und ein Gefühl von Zugehörigkeit vorhanden sei. In der Diskussion, die sich ihrem Vortrag anschloss, betonte Frau Barnek auch, dass Hochsensible zuweilen „Pionierwege“ gehen müssten, um sich, z.B. in Form einer Selbstständigkeit, ein berufliches Umfeld zu schaffen, in dem sie ihre Fähigkeiten wirklich zur Entfaltung bringen könnten.

Fazit des inspirierenden Tages

Hochsensibilität ist eine körperliche Besonderheit, die gerade im schulischen Umfeld von Nachteil, aber auch von Vorteil sein kann. Die Rahmenbedingungen in der Schule sind für hochsensibel wahrnehmende Menschen nicht optimal: ständige soziale Interaktion, ein lautes und lebhaftes Arbeitsumfeld mit wenig Rückzugsmöglichkeiten, unterschiedliche Rollenerwartungen sowie ein oft von Leistungsanspruch und Wettbewerb geprägtes Klima entsprechen nicht unbedingt den Bedürfnissen Hochsensibler. Andererseits können hochsensibel wahrnehmende Lehrerinnen und Lehrer gerade durch ihre feine Wahrnehmung, ihre Reflexionsfähigkeit und das oft intuitive Erfassen sozialer Zusammenhänge eine echte Bereicherung für die Schule sein, in der sie unterrichten.

Die Aufgabe der Schule ist es meiner Meinung nach, die Rahmenbedingungen zu schaffen, die das Arbeiten für hochsensible LehrerInnen (und damit natürlich auch für alle „normalsensiblen“ Kolleginnen und Kollegen) angenehmer machen, z.B. ein wertschätzendes und fehlertolerantes Umfeld, Möglichkeiten zu Rückzug und Regeneration und flexible berufliche Laufbahnen, die der Individualität der Lehrkräfte gerecht werden.

Als Aufgabe hochsensibler Lehrerinnen und Lehrer sehe ich es an, sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu werden und diese klar und selbstbewusst zu kommunizieren. Dies ermöglicht ihnen, auch unter dem Einfluss zahlreicher Reize, ihren Beruf kraftvoll und engagiert auszuüben und damit für hochsensible Schülerinnen und Schülern ein wichtiges Vorbild zu sein.

Und jetzt?

Inspiriert von diesem Tag kehrte ich am nächsten Morgen zu meiner Arbeit an der Schule zurück. Ich bin definitiv noch wacher geworden für die Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten, die das „System Schule“ für Hochsensible bereit hält.

Die Empfindsamkeit hochsensibler Menschen ist eine Stärke – sie braucht, um sichtbar zu werden, wie jede zarte Pflanze, den Raum, in dem sie sich entfalten kann.

~ ~ ~

Links zum Thema:

cjd-dortmund.de (Beratung des CJD Dortmund zum Thema „Hochsensibilität“)

hochsensibel.org (Website des Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität e.V)

Wikipedia-Website (grundlegende Information zu Forschungsstand und Auswirkungen der Hochsensibilität auf den Alltag von HSP)

 

2 Gedanken zu „Was haben James Bond und Carolin Kebekus gemeinsam? Bericht vom Fachtag „Hochsensibilität bei Schüler*innen“ in Dortmund“

  1. Sehr informativer Artikel zur Fachtagung Hochsensibilität im Schulalltag im September 2019. Hätte auch gerne teilgenomme, da ich vom Termin 2018 wusste. Schade… Habe ich sogleich bei Twitter Account highsensitiveSW und in der Facebook Gruppe Soziale Arbeit und Hochsensibilität geteilt. Liebe Grüße von Elke Overhage

    Gefällt 1 Person

    1. Danke für‘s Weiterleiten! Deine Nachricht war leider bei mir im „Spam“ gelandet, daher reagiere ich erst jetzt auf sie. Vielleicht ja dann bis zum Fachtag 2020, sofern es einen geben wird!
      Herzlichen Gruß, Sarah

      Gefällt 1 Person

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