
Ich arbeite seit inzwischen fast zehn Jahren als Lehrerin an einer Schule, an der Erwachsene ihr Abitur nachholen. Meine Schüler/innen, bzw. Studierenden, wie die Erwachsenen an unserer Schule genannt werden, sind äußerst unterschiedlich. Unter ihnen sind Menschen mit Fluchterfahrung und noch geringen Deutschkenntnissen ebenso wie junge Frauen und Männer mit psychischen und körperlichen Erkrankungen oder körperlichen Einschränkungen.
Einer meiner Kollegen sitzt im E-Rollstuhl und unterrichtet mit Assistenz. Für alle ist es inzwischen Alltag, ihn mit seiner Begleitung zu sehen, die ihm z.B. in der Schulmensa bei der Nahrungsaufnahme behilflich ist oder Kursmaterialien für ihn kopiert. Auch einer meiner Studierenden ist aufgrund einer spastischen Lähmung auf Assistenz angewiesen. Sein jeweiliger Assistent, bzw. seine Assistentin sitzt mit im Unterricht und macht auf seine Anweisungen hin Notizen. In Klausuren erhält er als Nachteilsausgleich 50% mehr Zeit für das Bearbeiten der Aufgaben. Sein Assistent oder seine Assistentin notiert dabei wie im Unterricht handschriftlich, was er ihnen diktiert.
Methodik mit Tücken
An einem meiner Leistungskurse nimmt neben diesem Studierenden ein junger Mann mit starker Seheinschränkung teil. Ich finde es beeindruckend, wie locker und selbstverständlich beide mit ihrer Behinderung umgehen. Letztlich lernen alle im Kurs dadurch viel von ihnen. Mein seheingeschränkter Studierender verfügt, wie er mir erklärte, noch über einen Sehrest, der ihm die Wahrnehmung von Schwarz-weiß-Kontrasten, Konturen und kräftigen Farben ermöglicht. Texte liest er mit einem elektronischen Lesegerät, bzw. mit einer Leselupe auf dem Tablet, das ihm diese stark vergrößert. Auch seine Notizen macht er, indem er die Arbeitsblätter unter die elektronische Lupe legt und so seine eigene Schrift lesen kann. Tafelbilder fotografiert er ab und sieht sie sich auf dem Tablet von Nahem und vergrößert an, die Klausuren schreibt er an einem extra dafür verwendeten PC. Ich als Fachlehrerin speichere das Dokument nach Ende der Klausur auf USB-Stick und drucke es mir für die Korrektur aus.
Kürzlich wurde mir während einer Stunde aber noch einmal bewusst, wie „blind“ wir Sehenden manchmal sind trotz aller Reflektiertheit für die Andersartigkeit – und damit auch die anderen Bedürfnisse – unserer Gegenüber. Ich hatte die, wie ich fand, tolle Idee gehabt, als Einstieg in ein neues Thema ein „Schreibgespräch“ zu initiieren, eine Methode, bei der meine Studierenden sich in kleinen Gruppen über ein vorher bestimmtes Thema (hier eine neu begonnene Lektüre) ausschließlich schriftlich austauschen sollten. In ihrer Mitte lag also ein großes Blatt und sie sollten ihre Gedanken und Assoziationen darauf notieren und wiederum Kommentare und Anmerkungen – ebenfalls ohne Worte – neben die Notizen ihrer Mitschüler/innen schreiben. Als Abschluss der Gruppenarbeit sollten sie, nun wieder mündlich, die wichtigsten Ergebnisse des Austauschs im Plenum vortragen.
Logisch, dass diese Methode nicht gerade inklusiv für sehbehinderte Schülerinnen und Schüler ist? Ebenso wenig wie für diejenigen, die nicht selbst einen Stift halten können? Mir fiel das tatsächlich erst auf, als meine Studierenden schon mitten in der Gruppenarbeit steckten und es war mir, ehrlich gesagt, ganz schön peinlich.
Die soziale Kompetenz meiner Studierenden
Nun kam ich jedoch in den Genuss der wahren Kompetenz meiner Studierenden – der körperlich eingeschränkten wie der nicht eingeschränkten: wirklich alle beteiligten sich an der Gruppenarbeit. Mein Studierender mit Schreibassistenz, indem er seinem Assistenten halblaut diktierte, was dieser auf das Blatt in der Mitte schreiben sollte. Mein Studierender mit Seheinschränkung, indem ihm seine Mitstudierenden halblaut vorlasen, was sie geschrieben hatten, bzw. indem er ihre Notizen mithilfe der Leselupe auf seinem Tablet vergrößerte und anschließend seine Kommentare dazu schrieb. Außerdem gingen die Studierenden in dieser Gruppe wie selbstverständlich dazu über, ihre Notizen in verschiedenen Farben zu machen. Eigentlich klar: für jemanden, der nur eingeschränkt sehen kann, bedeutet es eine zusätzliche Anstrengung, auch noch verschiedene Handschriften auseinanderzuhalten und somit ohne Worte zu erfassen, wer was in diesem „Schreibgespräch“ gesagt hat… Das alles lief so selbstverständlich und entspannt ab, dass ich wirklich staunte. Dafür, dass ich mit der Absicht methodischer „Auflockerung“ eigentlich gerade jede Barrierefreiheit beseitigt hatte, wussten sich ALLE meine Studierenden beeindruckend gut zu helfen.
Auch das Feedback meines seheingeschränkten Studierenden nach der Übung, als ich alle im Kurs um eine kurze Rückmeldung zur Methodik bat, war äußerst aufschlussreich für mich. Es sei eine „sehr interessante Erfahrung“ gewesen, „wenn auch vielleicht nicht die ideale Methode für Menschen mit Seheinschränkung“, wie er mit feiner Ironie bemerkte. Aber was ihm sehr gefallen habe: in der Klasse sei es endlich mal komplett ruhig gewesen… Wir mussten alle lachen und auch diesbezüglich hatte ich durch einen einzigen Satz wieder etwas begriffen: wie anstrengend nämlich sonstige Gruppenarbeit, in der 20 bis 30 Menschen, wenn auch nur halblaut, sich zur selben Zeit unterhalten, für Studierende mit Seheinschränkung sein muss. Wenn ich ohnehin schon einen Großteil meiner Sehkraft über das Gehör kompensieren muss und nonverbale Gesprächssignale wie Nicken oder Kopfschütteln für mich nur schwer erkennbar sind, wie anstrengend muss dann eine solche Geräuschkulisse während des Austauschs mit anderen sein!
Tja… und so ging ich selbst an diesem Tag ein Stückchen klüger nach Hause sowie ziemlich beeindruckt von der echten Inklusion, die ich an diesem Tag erlebt hatte!
Herzlichen Gruß, Sunnybee
PS. Danke an Lydia! Dieser Beitrag erschien zuerst als Gastbeitrag auf ihrer Website lydiaswelt, wo sie sehr informativ und zugleich unterhaltsam über ihr Leben als Mutter und Autorin mit Sehbehinderung schreibt.
Genau so soll es doch sein. Mein Sohn braucht auch mehr Zeit in allen Bereichen. Eine seiner Lehrerinnen – und sie war Fachlehrerin an einer Sonderschule – hat das nicht begriffen, denn manchmal war er verbal schön schnell. Nur nicht immer…
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Liebe Piri,
danke für deinen Kommentar! Mich hat an der Situation vor allem die Initiative und der Gemeinschaftssinn meiner Studierenden beeindruckt. Und natürlich, wahrzunehmen, wie selbstverständlich ich doch oft auch selbst v.a. von mir selbst ausgehe. Klar, für dieses Aha-Erlebnis zu „sorgen“ ist definitiv nicht die Aufgabe meiner Schüler/innen mit Einschränkung. Aber hilfreich (und lehrreich) ist die „Inklusion“ so definitiv für beide Seiten!😉
Lieben Gruß, Sunnybee
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Inklusion wird immer wieder kontrovers diskutiert. Während es Menschen gibt, die diese Schulform verteufeln, wird sie von Anderen als die einzig richtige Methode angepriesen. Ich persönlich glaube, dass die Lösung irgendwo dazwischen liegt.
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Liebe Lydia,
ja, das glaube ich auch. An den Studierenden in meinen Kursen sowie meinen Kolleg/innen mit körperlicher Einschränkung sehe ich, welche Initiative, was für ein Durchhaltevermögen und auch welche soziale Kompetenz ein Leben als eine/r von wenigen „Behinderten“ unter vielen nicht (offensichtlich) Eingeschränkten auch nötig macht.
Trotzdem habe ich gerade bei meiner Arbeitsstelle das Gefühl, dass das alltägliche Miteinanderleben und die Zusammenarbeit unterschiedlichster Menschen wirklich für alle eine Bereicherung ist. Eben eine Übung in Respekt und gegenseitiger Rücksichtsnahme – allerseits. Vor allem überzeugt mich, dass es dann nicht mehr „die Behinderten“, „die Nicht-Behinderten“, „die Asylbewerber“, „die psychisch Erkrankten“ sind, sondern konkrete Menschen. Das allein ermöglicht ganz andere – auch positive – Erfahrungen miteinander – und das ist schon viel wert, finde ich!
Herzlichen Gruß und danke fürs Mitlesen, Sunnybee
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Inklusion wird gern auf den Schulunterricht begrenzt. Aber was hat ein blinder Schüler davon, wenn er einen Schulbegleiter hat, und nicht lernt sich selbständig zu orientieren? Was hat er davon, wenn er ständig vor Augen gehalten bekommt was er nicht kann? So, und was wird aus einem solchen Menschen nach der Schulzeit? Das sind Fragen, die man sich stellen muss, bevor man sich als Eltern für eine inklusive Beschulung entscheidet. Ich habe blinde Erwachsene gesehen, die zwar in einer Regelschule waren, aber außerhalb der Schule in einem fürsorglichen Elternhaus andere Kompetenzen wie selbständige Orientierung, Haushaltsführung oder sportliche Aktivitäten einfach auf der Strecke geblieben sind. Inklusion kann nur gelingen, wenn auch die notwendige Expertise eingefordert wird, und wenn auch außerhalb der Schule Angebote existieren. Und eben daran mangelt es noch.
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Liebe Lydia,
danke auch für diesen kritischen Kommentar zum Thema Inklusion. Ja, Fürsorge sollte für kein Kind – egal ob mit Behinderung oder ohne – bedeuten, dass ihm Dinge abgenommen oder vorenthalten werden, die zu lernen es eigentlich in der Lage ist. Aber konstante Überforderung ist eben auch entmutigend. Freunde, deren Kind das Down-Syndrom hat, haben sich letztlich gegen eine Regelschule entschieden, da ihr Sohn dort vermutlich nur zu einem Bruchteil so gefördert würde, wie es an einer Förderschule möglich ist.
Meine Studierenden (erwachsen und körperlich, nicht geistig, eingeschränkt) machen auf mich jedoch den Eindruck, dass das Gymnasium genau die richtige Schulform für sie ist. Vermutlich wie immer: Für alle das Gleiche funktioniert eben nicht, man sollte den einzelnen Menschen sehen, fragen und dann entscheiden, bzw. ihn oder sie entscheiden lassen!
Herzlichen Gruß, Sunnybee
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Nun, bei erwachsenen Menschen gehe ich mal davon aus, dass sie, wenn sie Hilfe brauchen, diese auch konkret benennen können. Da ist das Thema Erziehung in der Regel abgeschlossen.
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Liebe Sunnybee,
danke dass du diese besondere Inklusions-Erfahrung aus deinem Berufsalltag mit uns geteilt hast.
Ist doch toll, wenn Lehrer noch etwas von ihren Schülern lernen können 🙂
Du scheinst mir eine sehr engagierte, kreative und motivierte Lehrerin zu sein. Nicht allen Schülerinnen und Schülern ist dieses Glück vergönnt.
Liebe Grüße, Christina
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Liebe Christina,
danke für deinen netten Kommentar! Ja, tatsächlich ist das Lehrerinnen-Dasein für mich auch immer damit verbunden, selbst Neues zu lernen und zu verstehen. Gewisse Parallelen tatsächlich zum Mutter-Sein, wenn auch auf anderer Ebene!…😉
Herzlichen Gruß und bis bald wieder einmal, Sunnybee
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