Wir alle lügen unsere Kinder an.
Jeden Tag. Mehrmals. Manchmal bewusst, aber oft, ohne es recht zu bemerken. Wir lügen aus Bequemlichkeit und um Konflikte zu vermeiden: „Die Gummibärchen sind alle.“ (Stimmt nicht, es ist uns nur zu mühsam, dem kleinen Schleckmaul zu erklären, warum jetzt Schluss mit Süßem ist). Aus Fürsorge: „Wenn du von dort runterfällst, brichst du dir beide Beine!“ (Na ja, aus der Höhe verstauchst du dir in Wahrheit höchstens den Knöchel). Und schließlich – auch unseren Kindern gegenüber schon – aus Höflichkeit und zur Ermutigung: „Wunderschön gemalt!“ (wenn man dieses zweifarbige Gekritzel „Malen“ nennen kann).
Die Lüge als sozialer Kitt
Ein Schelm, wer dieses Lügen als Teil des wahren „Menschlich-Seins“ bezeichnete! Denn tatsächlich ist es für uns selbstverständlich, diese „weißen Lügen“ Familie, Freunden und Bekannten gegenüber zu verwenden. Alltagslügen machen unser Zusammenleben einfacher und manchmal auch angenehmer. „Wie gefällt dir meine neue Frisur?“ Was antworten wir, wenn wir sie in Wahrheit schrecklich finden? „Gut“?! Oder ausweichend: „Die alte war auch schön“, bzw. „Ja, toll, dass du so experimentierfreudig bist“? Nicht viele von uns würden ihrem Gegenüber wohl auf den Kopf zu sagen, dass sie den neuen Haarschnitt höchst unvorteilhaft finden.
Und so vermitteln wir unseren Kindern eine „doppelte Botschaft“: Du sollst nicht lügen. Aber Tante Maria lautstark als „doof“ bezeichnen sollst du auch nicht – selbst, wenn sie es ist. Ist das Taktgefühl? Sinnvolle Etikette und Grundlage höflichen Miteinanders? Oder einfach Erziehung zur Unehrlichkeit?
„Otto war’s!“
Warum empört es uns andererseits, wenn unser Kind „Nein, hab’ ich nicht!“ erwidert auf die Frage, ob es die Gummibärchen, die wir zuvor geleugnet hatten, gefunden und gegessen habe? Im Kleinkindalter – und aus dieser Warte schreibe ich momentan ja, mit Blick auf meinen dreijährigen Sohn – mag das noch niedlich wirken: „Hast du den Saft verschüttet?“ „Nein, [Phantasiefreund] Otto war’s.“ Oder noch besser: „Nein, du?“ (mit unschuldigem Blick). Offensichtlich haben schon Kinder ab etwa drei Jahren ein Bewusstsein dafür, dass manches Verhalten erwünscht und anderes nicht gern gesehen ist – und dass eine (Not-) Lüge sich als Ausweg aus dieser Situation anbietet.
Später wünschen wir uns jedoch z.B. Teenager, die uns nicht vorsätzlich anlügen, auf deren Wort wir uns verlassen können. Mein Ex-Freund und Vater meines Sohnes hat hierzu kürzlich etwas Kluges gesagt: „Wenn ich als Jugendlicher wirklich etwas ausgefressen hatte, habe ich es immer meiner Mutter erzählt. Sie wurde dann vielleicht sauer und ich musste meinen Fehler wieder gut machen – aber verurteilt hat sie mich nicht.“
Ehrlichkeit entsteht durch Vertrauen
Wenn wir also wollen, dass unsere Kinder zu ehrlichen Menschen heranwachsen, kommt es wohl weniger darauf an, ob wir die ein oder andere „Alltagslüge“ ihnen gegenüber verwenden, sondern vielmehr, ob wir ihnen vermitteln: „Ich liebe dich, auch wenn du etwas getan hast, was mir nicht gefällt“ und umgekehrt: „Habe ich etwas getan, was nicht in Ordnung war, versuche ich es nicht zu vertuschen, sondern stehe dazu“.
„Ja, ich habe deine Lieblingsjacke durch das falsche Waschprogramm auf Puppengröße geschrumpft“. „Nein, das Schwein lebt nicht weiter, nachdem es zu Wurst gemacht wurde“. Ehrlichkeit zahlt sich meiner Meinung nach dort aus, wo ich durch sie ihren ganz eigenen Wert vermitteln kann.
Ehrlichkeit als Basis echter Begegnung
Ehrlich zu sein kann unbequem sein, schmerzhaft und manchmal sogar gefährlich. Aber es ist meiner Meinung nach die Basis wirklich vertrauensvollen Kontakts. Schwindle ich, unterschlage Dinge und erzähle Halbwahrheiten, mag das das Zusammensein mit meinen Mitmenschen auf den ersten Blick erleichtern. Tatsächlich jedoch wird es dadurch oberflächlich und brüchig; sollte eine meiner Lügen auffliegen, erschüttert dies den Glauben an die grundsätzliche Aufrichtigkeit unseres Kontakts.
In Zeiten von Fake News und der Inszenierung von Halbwahrheiten wird meiner Meinung nach immer bedeutender, welche Haltung wir dem Lügen gegenüber einnehmen.
Geben wir zu, dass wir manchmal zu schwach sind, die Wahrheit zu vertreten, bemühen uns aber zugleich um Aufrichtigkeit, ist das meiner Meinung nach schon einmal ein Anfang für den Glauben an die grundsätzliche Ehrlichkeit zwischen uns. Und die ist meiner Meinung nach essentiell. Für uns – und für unsere Kinder.
Wie haltet ihr es mit den kleinen „Alltagslügen“? Absolute Ehrlichkeit oder erlaubt ihr euch – und euren Kindern – die ein oder andere Schwindelei? Wenn ihr wollt, schreibt mir euren Kommentar dazu!
Herzliche Grüße, Sunnybee
[Foto: Pixabay]
Liebe Sunnybee,
ich bemühe mich sehr meinen Kindern gegenüber ehrlich zu sein, also zumindest bei so Gummibärthemen. Am schwierigsten ist die Ehrlichkeit, finde ich, bei „ich habe keine Lust“ (zum 16. Mal ein Connibuch vorzulesen, 30 min vor einer Autowaschanlage zu stehen, na du weißt schon), aber ich finde, das gehört sich so.
Schwieriger finde ich das, wo ich meine Kinder schützen will. Ein Beispiel: ich war mit meinem Vierjährigen und einer Verwandten am Strand, der Vierjährige spielte hingebungsvoll und wir Erwachsenen unterhielten uns sehr intensiv über ein gemeinsames Erlebnis und mir kamen die Tränen.
Das Kind merkte es und war sehr besorgt und ich sagte einfach, ich habe mir weh getan, aber jetzt ist es besser, von Konflikten zwischen mir und der heiß geliebten Omi muss es nichts wissen, ich finde auch, Kinder sollten vor den Details von Beziehungsproblemen ihrer Eltern bewahrt werden, oder vor Überlegungen der Mutter abzutreiben – das habe ich im Bekanntenkreis mitbekommen, das Kind war zwar schon im Teenageralter, aber solche Vertraulichkeiten sind für mich Missbrauch des Kindes.
Ich plädiere auch dafür Kindern z.B. über Terroranschläge, Holocaust, Hiroshima etc. nur das zusagen, was sie expizit erfragen und ihnen nichts aufzudrängen, damit sie vielleicht mal bessere Menschen werden.
Meine Lehrer*innen waren noch größtenteils kriegstraumatisiert und drängten Greuel massiv auf.
Und auch bei meinen Pflegekindern halte ich es so, dass sie die schmerzlichen Seiten ihrer Biographie nur auf Nachfrage erfahren, ich vertraue ihnen, dass sie ihre Grenzen spüren, gestehe ihnen das Recht auf Nicht-Wissen zu.
Oh, das ist jetzt viel geworden.
Liebe Grüße
Natalie
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Liebe Nathalie,
ein langer Kommentar, in der Tat, vielen Dank! Ich habe mir erlaubt, ihn zur besseren Lesbarkeit in drei Abschnitte zu gliedern.🙂
Ich finde dein Argument sehr interessant, dass es auch ein Schutz sein kann, Kindern manchmal nicht die (volle) Wahrheit zu sagen – und vermutlich hat mich das Thema gerade deswegen für einen Artikel interessiert, weil es eben wieder kein „Schwarz“ und „Weiß“ gibt, sondern sich liebevolle Fürsorge und Achtung vor den eigenen Kindern auch darin zeigen kann, sie, wie du schreibst, nicht mit „allen Greueln der Welt“ allzu früh zu konfrontieren.
Danke für deinen tollen Kommentar mit den persönlichen Beispielen und gerne bis bald wieder!
Sunnybee
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PS. Mir fällt noch ein, dass ich versuche, meinem Sohn gegenüber, was meine Gefühle angeht, ehrlich zu sein, also „Ich habe dazu gerade keine Lust“ oder „Ich bin gerade traurig“ statt blumiger Ablenkungen oder „rationaler“ Vorwände.
Er als Dreijähriger spiegelt mir das toll, indem er einerseits manchmal z.B. ganz unverblümt sagt: „Ne, dazu habe ich keine Lust“, aber auch schon in einer ähnlichen Situation ganz trocken die Erwachsenenfloskel verwendete „Ne Mama, leider keine Zeit“, worüber ich in dem Moment herzlich lachen musste!…😉
Herzlichen Gruß, Sunnybee
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