Familie, Gesellschaft

Fehlerkultur. Mein Sohn, das Halbjahresgespräch und ich

Kinderhand, die Stift hält und damit in ein Schulheft schreibt.


Ich sitze der Klassenlehrerin meines Sohnes gegenüber. Auf einem etwas zu kleinen Stuhl, an einem etwas zu kleinen Tisch, unter den ich halbwegs entspannt meine Beine zu schieben versuche. „Herzlich Willkommen zum Halbjahresgespräch!“, eröffnet Frau W. die Unterhaltung: „Wir beginnen mit dem Fach Deutsch.“ Mein Sohn geht seit einem halben Jahr in die Schule, in die erste Klasse. Er mag seine Klassenlehrerin, seine Freunde, den Unterricht. Ich bin gespannt, was sie zu den letzten Monaten zu sagen hat. 

Kurz davor, während ich darauf warte, in den Besprechungsraum gerufen zu werden, werde ich tatsächlich nervös. Warum eigentlich? Während meiner Zeit als Lehrerin habe ich selbst Hunderte solcher Beratungs- (und Bewertungs-) Gespräche geführt. Habe Noten vergeben, Menschen innerlich punktgenau platziert: Das war eine 2,5, das ganz klar ein „sehr gut“, das eine schwache Leistung. Ob ich dabei mein Gegenüber wirklich gesehen habe? Die Bemühung oder Nicht-Bemühung? Die Hoffnung oder Befürchtung, mit der mir der Mensch auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß? Ich habe auf jeden Fall versucht, mehr als nur das „messbare“ Können zu bewerten. Auch Kreativität, Mut oder die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Mit dem Verständnis, dass Schule nur selten alles war, was die Kraft und Aufmerksamkeit meiner Schülerinnen und Schüler forderte. Dass ich das Leben außerhalb der Schule ebenso wahrnehmen wollte wie die Lebendigkeit und Einzigartigkeit der mir anvertrauten Menschen. Ob mir das grundsätzlich gelungen ist? 

Beurteilt, bewertet, eingestuft

Jetzt wird mein Kind beurteilt, bewertet, eingestuft. Seine Klassenlehrerin macht es freundlich, behutsam, erwähnt Positives, ebenso wie Bereiche, in denen er noch Unterstützung braucht. Im Ganzen alles im grünen Bereich. Aber ist es nicht absurd, dass überhaupt diese Bewertung im Raum steht, nach nur einem halben Jahr des gemeinsamen Lernens und Zusammenlebens? Noten gibt es in der ersten Klasse noch nicht. Aber sehr wohl das Stufensystem aus sehr gut, gut, durchschnittlich und förderwürdig. 

Was hängen bleibt: dass mein Sohn offen und vertrauensvoll auf die Lehrerinnen zugeht. Dass er sich gut ausdrücken kann (mit drei Jahren waren Pädagoginnen noch besorgt, weil er diverse Laute unkorrekt aussprach…) und dass er Rückversicherung braucht, ob er alles richtig macht. Die Lehrerin wertet das als ausstehenden Entwicklungsschritt. Ich nicke zunächst, frage mich nach dem Gespräch aber: Wie sonst soll echtes Lernen vonstatten gehen? Ausprobieren, sich Unsicherheit eingestehen, Fehler machen dürfen? Auch nachfragen, von anderen lernen können, die schon einen Schritt weiter sind? 

In der Schule gibt es klar die Sanktion dafür, etwas „falsch“ zu machen. Aber wo ist das Verständnis dafür, dass der Weg zum Können über das „Noch-nicht-Können“ führt? In vielen Schulen gilt soziales Verhalten und gegenseitige Unterstützung inzwischen als erstrebenswert, steht dick in Leitbildern und Schulprogrammen. Gleichzeitig ist beim Lernen spätestens dann damit Schluss, wenn es an die Bewertung der erbrachten Leistung geht. Da wird die eben noch hochgelobte Kooperation plötzlich zum hinterhältigen Abspicken, wird die Frage nach Unterstützung als fehlende Vorbereitung oder mangelnde Eigenständigkeit gewertet. 

Lernen unter Leistungsdruck?

Kinder verinnerlichen diese Erfahrung schnell. Statt wirklich frei auszuprobieren, was möglich ist, lernen sie: in der Schule geht es darum, alles richtig zu machen – und das möglich als der oder die Beste und Schnellste. Wie förderlich das dem Lernen, auch im kognitiven Sinn, ist, wage ich zu bezweifeln. Und das übrigens nicht nur bei denjenigen, die sich mit dem schulischen Lernen schwer tun. Einige meiner größten Lernerfolge verdanke ich als „gute Schülerin“ akribisch ausgearbeiteten Spickzetteln. Gar nicht so sehr aufgrund der ein oder zwei Fakten, die ich ihnen während einer Prüfung entnehmen konnte (und ja, das kam vor…), sondern wegen des Denk- und Lernprozesses, den ich durchlief, während ich die Notizen schrieb. Wissen zu komprimieren und auf den Punkt zu bringen ist eben auch bereits Lernen  – und neben dem Erklären eines Sachverhaltes für andere (was ich als gute Schülerin ebenfalls oft tat), erwiesenermaßen eine der effizientesten Wege, das zu Lernende zu verinnerlichen. 

Statt sich voneinander anregen, begeistern, auch anleiten und unterstützen zu lassen, soll sich in der Schule aber spätestens bei der Prüfung jeder selbst der Nächste sein. Dahinter steht die unsichtbare Doppelmoral, die Kinder schon in den ersten Monaten ihres Lebens in der Schule verinnerlichen. Sie heißt: Weiche nicht zu sehr vom „Normalen“ ab. Sei kein Streber, aber auch kein Träumer. Sei selbstbewusst, aber nicht zu (vor-)laut, zurückhaltend, aber nicht schüchtern. Mach dein Ding, aber weiche bloß nicht zu sehr von den Vorgaben ab! Und zugleich die zweite Botschaft: Sei der oder die Beste. Bring gute Noten nach Hause, miss dich mit allen anderen in deiner Klasse, sei, auf kognitive Leistung bezogen, vorne mit dabei!

Was Schule unseren Kindern wirklich beibringt…

Soziale Anpassung bei gleichzeitigem Leistungsdruck sind die wahren Lehren, die unsere Kinder im System Schule, wie es heute noch funktioniert, verinnerlichen. Und das auch, wenn der einzelne Lehrer oder die einzelne Lehrerin versucht, das Kind wirklich wahrzunehmen, zu fördern, als Persönlichkeit jenseits der in der Schule bewerteten Fähigkeiten zu sehen. Denn was passiert, wenn ein Kind zu stark abweicht von einer wie auch immer definierten Norm, oder zu geringe Leistung bringt? Es fliegt raus. So hart, so klar, so vielfach unausgesprochen.

Meinem Sohn berichte ich nicht viel mehr von dem Gespräch, als dass ich mich mit seiner Lehrerin unterhalten habe und sie finde, er könne gut erzählen. Er freut sich sichtlich, nickt und fragt nicht weiter nach. Ein stilles Abkommen? Er lässt mich im Glauben, dass für ihn Schule noch der Ort ist, an dem er vor allem Spaß hat und seine Freunde trifft. Und sagt nicht, dass er längst verstanden hat, dass es dort eigentlich um ganz andere Dinge geht. Darum, „gut“ zu sein, Dinge „richtig“ zu machen, die korrekten Antworten zu geben. Was auch immer die sein mögen. Die Lehrerin weiß es schon. 

Nachdenkliche Grüße, Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)

Die Autorin ist Lehrerin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen und Mutter eines Kindergarten- sowie eines Grundschulkindes.

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[Foto: Pixabay]

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