Kunst, Persönliches

Brief an D.

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Der französische Philosoph André Gorz hat auf etwa 80 Seiten seiner Frau Dorine einen Liebesbrief geschrieben. Fast 60 Jahre lang war das Paar verbunden, eine „große Liebe“, die der Autor nun, zum Ende ihres gemeinsamen Lebens, beschreibt und zu begreifen versucht.

Vor Jahren habe ich dieses Buch schon einmal gelesen. Jetzt nehme ich es noch einmal zur Hand. Eine Erinnerung an etwas Kostbares, Zartes und dennoch Ausdrucksstarkes, ist mir geblieben. Die gebundene deutschsprachige Ausgabe passt dazu: ein schmales Bändchen, außen blassgelb, der Inneneinband scharlachrot.

Beim Wiederlesen fällt mir zuerst auf, dass Gorz mit Staunen – und einem Anflug von Reue – seine Frau zu beschreiben scheint. Das Buch wirkt wie der Versuch, das Bild zu korrigieren, das er in einem früheren autobiografischen Werk („Der Verräter“) von ihr gezeichnet hat: Dorine als mehr oder weniger hilfloses, von ihm abhängiges Wesen. Im „Brief an D.“ erscheint seine Frau als das genaue Gegenteil: souverän im Umgang mit Menschen, kontaktfreudig und weltgewandt – die faszinierende ‚Andere‘, allein schon dadurch, dass sie als Engländerin zunächst nicht Gorz’ Sprache spricht:

„Was mich bei Dir fesselte, war, dass Du mir Zugang zu einer anderen Welt verschafftest. Die Werte, die meine Kindheit beherrscht hatten, galten dort nicht. Diese Welt verzauberte mich. Ich konnte mich davonstehlen, wenn ich sie betrat, ohne Verpflichtung und ohne Zugehörigkeit.“

Der zweite Weg, sich aus seinem Leben als jüdischer Flüchtling in Frankreich, mit quälend unsicherem Aufenthaltsstatus, ‚davonzustehlen‘, ist für Gorz das Schreiben. Klar und stellenweise auch selbstkritisch beschreibt er, wie seine Arbeit sein Leben dominiert: auch nachts um drei schreibt er noch, jahrelang ohne sein Werk zu veröffentlichten. Dorine unterstützt ihn vorbehaltlos: „Einen Schriftsteller zu lieben heißt lieben, dass er schreibt“, zitiert Gorz sie: „Also schreib!“

Neben dem Wort und der Schrift ist die Sinnlichkeit bis ins hohe Alter ein verbindendes Element der Liebenden:

„Bald wirst Du jetzt zweiundachzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körper an meinem auszufüllen vermag.“

Mit diesen Sätzen beginnt – und endet – Gorz’ Essay. 2007, als seine Frau schwerkrank ist, nehmen die beiden sich gemeinsam das Leben. Was bleibt, ist (unter anderem) dieser Brief in Buchform: Der Versuch, eine Liebe zu beschreiben, die sich der Beschreibung doch entzieht: kostbar und wie alles Lebendige nicht endgültig fassbar.

André Gorz: Brief an D. Geschichte einer Liebe. Rotpunktverlag.