Gesellschaft, Politik

„Wir können Zukunft“ von Vera Schneevoigt

Buchcover „Wir können Zukunft“ von Vers Schneevoigt (Haufe, 2024)


Dieses Buch regt mich auf. Und das ist gut. Warum? Ihr erfahrt es in dieser Rezension.

„Wir können Zukunft“, schreibt Vera Schneevoigt in ihrem gerade im Haufe-Verlag erschienenen Buch. Sie war als Managerin jahrelang in Großunternehmen wie Siemens, Fujitsu und Bosch tätig. In ihrem Buch plädiert sie für den Wert von Vielfalt in Unternehmen und für Führung, die individuelle Fähigkeiten und Talente wertschätzt und zur Entfaltung bringt.

Je mehr Perspektiven wir einbringen, umso erfolgreicher werden wir sein. Vielfalt ist zwar anstrengend, aber es lohnt sich, sie auszuhalten, zu fördern und nutzbar zu machen. Wir brauchen unterschiedliche Sichten auf die Welt und ihre Herausforderungen. Unsere globalisierte Wirtschaftswelt kann gar nicht anders als vielfältig. (Wir können Zukunft, S. 25)

Teil ihrer Managementaufgabe in Krisenzeiten war allerdings auch, Menschen zu entlassen, weil sich deren Weiterbeschäftigung für das Unternehmen nicht länger lohnte. Sie führte die dabei notwendigen Gespräche, wie sie schreibt, „menschenzentriert“, hörte ihrem Gegenüber zu, war klar und transparent, versuchte, die Entlassung so gesichtswahrend und sozialverträglich wie möglich umzusetzen. 

Fakt ist zugleich: Als Managerin nahm sie Menschen an nicht mehr rentablen Standorten ihren Arbeitsplatz, damit das Unternehmen, für das sie tätig war, langfristig noch mehr Gewinn erzielen konnte. Das ist die Basis eines Wirtschaftsdenkens, wie wir es heute global akzeptieren: Gewinn sticht. Was ökonomischen Nutzen bringt, zählt. 

Wir brauchen Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein und Integrität in Unternehmen – aber sie allein reichen nicht aus

Das ist der Moment, in dem mir das Lesen dieses Buches Bauchschmerzen bereitet. Denn genau dieses Denken hin zu stets optimiertem ökonomischen Nutzen, mit eindeutigem Gewinn und Verlust, ist einfach nicht dauerhaft möglich. Dazu ist unsere Welt zu komplex, sind unsere Ressourcen zu begrenzt, werden wir in Zukunft – auch global – zu sehr aufeinander angewiesen sein (wir sind es de facto ja schon, ohne es in den reichen Industrienationen wirklich zu realisieren). Ein Wirtschaftssystem, in dem Großkonzerne immer weiter expandieren und dabei ganze Standorte aufgrund fehlender Rentabilität schließen, ist per se nicht zukunftsfähig. Es denkt aufs Jetzt bezogen, nicht auf die Zukunft. Zumindest nicht über den eigenen Gewinn hinaus. 

Menschlichkeit, Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein und Integrität sind unentbehrlich im Zwischenmenschlichen. Menschen, die darüber verfügen, sind ein großer Gewinn für Unternehmen, schlicht, weil sie andere Menschen von der Strategie des Unternehmens überzeugen und sie dazu bringen, diese mitzutragen. 

Zugleich ändert die Menschenfreundlichkeit im Umgang nichts am grundsätzlichen Fehler im System: Der oder die Einzelne ist darin nutzbares und damit auch austauschbares „Humankapital“. Das wahrzunehmen und zugleich in einem entsprechenden Umfeld tätig zu bleiben, dieses sogar mit Freude mit zu gestalten, ist herausfordernd.

Macht korrumpiert – Welche Mechanismen stecken dahinter?

Vera Schneevoigt reflektiert das in ihrem Buch. Und sie übt klar Kritik an einer Denkweise, die von Prestige- und übertriebenem Leistungsdenken geprägt ist. Lege ich als Arbeitnehmer:in großen Wert auf meine berufliche Laufbahn und damit auf meine Position im Unternehmen, ist es nur ein kleiner Schritt, dass ich meinen Selbstwert darüber definiere. Das macht mich nicht nur in meinen Entscheidungen innerhalb des Unternehmens beeinflussbar (die berühmte Macht, die korrumpiert), es zeigt sich auch ganz klar beim Ausstieg, sei er struktur- oder altersbedingt:

In unserer Leistungsgesellschaft und vor allen in höheren Managementkreisen bezieht man seine Anerkennung aus der beruflichen Arbeit, hier wird der Wert einer Person gern an der Zahl ihrer Aufsichtsratsmandate oder sonstigen Posten gemessen. Wer sie nicht hat, ist nichts wert. Das ist natürlich eine ziemlich armselige Haltung, die auf Dauer nicht funktionieren kann. Es sei denn, man fällt im Büro tot um. Viele glauben sogar, sie seien ohne ihren Job wertlos. (Wir können Zukunft, S. 180/181)

Vera Schneevoigt hat sich ihre innere Unabhängigkeit offenbar bewahrt. Sie hat den Zeitpunkt ihres Ausstiegs als Managerin selbst gewählt, hat heute neue Aufgaben und gestaltet ihre Belange und die ihres Umfelds aktiv mit. Ihr Interesse an Menschen, ihre Verbindlichkeit und die Offenheit für neue Sichtweisen kommen ihr auch im Rahmen ihres gesellschaftlichen und privaten Engagements zugute.

Ehrenamt stabilisiert ein System, das Menschen benutzt, statt ihnen zu dienen

Diese von Integrität und Menschenfreundlichkeit geprägte Haltung ist tatsächlich zukunftsweisend und gefällt mir sehr. Was mir allerdings in diesem Buch fehlt, ist die grundsätzliche Kritik an einem Wirtschaftssystem – und damit natürlich auch an den Unternehmen, die davon profitieren –, das darauf ausgerichtet ist, Menschen „nutzbar“ zu machen. Im Ansatz schimmert diese Kritik durch, wenn die Autorin über das Verhalten ihres beruflichen Umfelds nach ihrem Ausstieg als Managerin schreibt:

Das menschliche Umfeld ändert sich mit einem beruflichen Wechsel enorm. Nach meinem Ausstieg bei Bosch habe ich bestimmte Kontakte bewusst nicht mehr aufrechterhalten, weil sie rein geschäftlich waren. Andere haben sich von mir abgewandt, weil ich ihnen nicht mehr nützlich war. […] Natürlich sagt niemand direkt, dass man als Mensch nicht interessiert. Aber das System ist stark geprägt durch Titel und Funktionen. (Wir können Zukunft, S. 181)

Solange wir dieses System selbst allerdings als gegeben hinnehmen und damit auch die zutiefst menschenunwürdige Sichtweise auf Menschen als nutzbares – oder eben nicht mehr verwertbares – menschliches „Kapital“, wird sich nichts daran ändern, dass die Pflege von Kindern oder alten Angehörigen unsichtbar und im Privaten bleibt. Kinder und sehr alte Menschen sind nicht „produktiv“, sie leistet im wirtschaftlichen Sinn nichts und haben damit aus Sicht einer Ökonomie, die auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichtet ist, keinen Wert. 

Ein grundlegende Neudefinition von Wirtschaft ist nötig!

Ehrenamt und gesellschaftliches Engagement auf privater Ebene können das abfangen – und dazu beitragen, innerhalb des Systems die eigene Integrität zu wahren. Am System selbst ändern sie jedoch nichts. In diesem muss ein Umdenken stattfinden, müssen neue Werte definiert werden, die menschenwürdigeres und tatsächlich zukunftsfähiges wirtschaftliches Handeln generieren. 

Das Potential dieses Buches sehe ich darin, dass es klar auf diese Werte und ihre Notwendigkeit aufmerksam macht, auch in Bezug auf unternehmerische Führung. Ich sehe zugleich aber auch, wie integre Menschen, die innerhalb dieses Systems tätig werden, durch ihre Arbeit letztlich zu dessen Erhalt beitragen – gerade, weil sie jahrzehntelang gewissenhaft und kompetent umsetzen, was ihnen wiederum von ihren Vorgesetzen als unternehmerische Notwendigkeit suggeriert wird. 

Ist richtiges Handeln im Falschen überhaupt möglich? Wie nutzen wir die Kräfte des Marktes, die ja enormes Potential in sich tragen, so, dass wir dabei nicht unsere eigenen Lebensgrundlagen zerstören? Ist Fürsorglichkeit füreinander und für die uns umgebende Umwelt nur ein nettes Extra, das wir uns ehrenamtlich und im Privaten leisten können? Und falls wir zu dieser Annahme klar NEIN sagen – wie gelingt es uns in Unternehmen und als Unternehmen, tatsächlich fürsorglich und damit zukunftsfähig zu handeln? 

Fragen, zu denen dieses Buch anregt. Schon allein deswegen lohnt seine Lektüre. 

Herzlich, Sarah Zöllner

Die Autorin ist freie Journalistin, Autorin für Familien- und Gesellschaftsthemen sowie Mutter eines Kindergarten- und eines Grundschulkindes.

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[Foto: privat. Danke an den Verlag für das Rezensionsexemplar. Dieser Beitrag gibt ausschließlich meine persönliche Meinung wieder.]

Ein Gedanke zu „„Wir können Zukunft“ von Vera Schneevoigt“

  1. Richtiges Handeln im Falschen. Der alte Adorno-Verweis macht denken auch über das Thema Erbrecht, Testament und Vorsorgeauftrag. Nicht nur die Wirtschaft muss neu definiert werden, auch wie eine Hinterlassenschaft aussehen kann und soll.

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