Gesellschaft, Persönliches

Wir Deutschen? Eine Annäherung

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Aaargh… tief und kehlig dröhnt der Laut durch den vollbesetzten U-Bahnwagon. Augenbrauen heben sich, eine ältere Dame umschließt fester ihre Handtasche, Köpfe drehen sich in die Richtung, aus der das aggressive Heulen kam. Aaaaargh… diesmal noch lauter und durchdringender.

Ein Kind beginnt zu weinen. Ein junger Mann erhebt seinerseits die Stimme, ruft gereizt: „Alter!…“ Unbeeindruckt erklingt der kehlige Laut zum dritten Mal: Aaaaargh. Unsicherheit zeigt sich in den Gesichtern der Pendler, in einigen ein Anflug von Furcht. Im nächsten Moment beginnt der elegant gekleidete Herr neben mir laut zu lachen. Mundwinkel heben sich, die nebeneinander Platzierten werfen sich amüsierte Blicke zu. Für Sekunden eine Gemeinschaft, eng gedrängt auf Plastikschalensitzen. Beim Aussteigen wird deutlich: es war ein obdachloser, offenbar geistig verwirrter Mann, der die Routine der Fahrt gestört hat.

Wer aus der Norm fällt, verschwindet

In Deutschland erkrankt laut einer Studie des Robert Koch Instituts innerhalb eines Jahres fast jeder dritte Erwachsene an einer psychischen Krankheit. Nicht viele sind so auffällig wie der Mann in der Bahn. Aber auch nicht viele geben sich offen zu erkennen. Eine Depression mag inzwischen kein Stigma mehr sein, anders sieht es mit Diagnosen wie einer Suchterkrankung oder Psychose aus. Wer krank ist, vor allem seelisch, hält sich bedeckt und wird im Alltag oft nicht sichtbar. Geschlossene Abteilungen und Betreuungseinrichtungen am Stadtrand umsorgen die Kranken, trennen sie aber auch vom Leben der Gesunden. Nur in Ausnahmefällen werden wir im Alltag mit extremen psychischen Erkrankungen konfrontiert.

Deutschland ist das Land sozialer Marktwirtschaft und zugleich der Ort, an dem Passanten Falschfahrer lautstark zur Ordnung rufen. Das Land von TÜV, Qualitätsanalyse, Grenzwertmessung und amtlicher Verwarnung: Die Deutschen scheinen Normen, Ordnungsmaßnahmen und Regulierungen regelrecht zu fordern.

Neulich, in Deutschland…

Ich frage meine Studierenden, die vor drei bis vier Jahren aus Afghanistan, Iran, Syrien oder auch Brasilien nach Deutschland immigriert sind, wie sie in ihrer Heimat Gäste bewirten. Die Gesichter erhellen sich, ein lebhafter Austausch beginnt. Anschließend sollen die jungen Erwachsenen berichten, welche Erfahrungen sie mit Deutschen in Bezug auf deren Gastfreundschaft gemacht haben. Nun ist es im Kursraum deutlich ruhiger. Schließlich bricht es aus einem Studierenden heraus. Es gebe ein Problem: die Deutschen kochten immer nur genau so viel, dass möglichst nichts übrig bleibe. „Man traut sich gar nicht, ein zweites Mal zu nehmen!“ Gelächter allerseits. Weitere Beiträge folgen: die Deutschen seien distanziert, wenig herzlich. Ich frage nach, woher diese Einschätzung komme und erfahre: sie sagten einem direkt wie eine Ohrfeige ins Gesicht, was sie an einem störe, aber nach dem Wohlergehen der Familie erkundigten sie sich nicht. Sie seien beleidigt, wenn man zu spät komme, aber zu früh dürfe man auch nicht sein. Und sie seien wenig spontan. Einfach vorbeischauen, womöglich noch mit Freunden? Fast tabu, wenn man sich nicht gut kenne und selbst unter Freunden sei der Spontanbesuch zu Hause nicht üblich. Die Diskussion ist respektvoll, die Beiträge reflektiert und dennoch ist eine gewisse Ratlosigkeit spürbar: viele scheinen trotz guten Willens nicht recht warm zu werden mit „den Deutschen“. 2015 rief Angela Merkel die „Willkommenskultur“ aus, 2019 scheinen zumindest diese jungen Menschen hier noch nicht recht angekommen zu sein.

Ein Moment ungewohnter Offenheit

Ein Tag später, dieselbe Schule. Der stellvertretende Schulleiter wird nach zehn Jahren die Schule verlassen und die Leitung einer anderen Schule übernehmen. Aufgrund seiner warmherzigen und integren Art war er im Kollegium sehr beliebt. Bedauern ist spürbar. Dennoch sind viele verblüfft, als ausgerechnet die Schulleiterin während ihrer Abschiedsrede in Tränen ausbricht. Was auch immer sie so sehr bewegt, sie ist ganz authentisch in ihrer Trauer. Anders als sonst ist an ihrer Erscheinung nichts Kontrolliertes mehr. Erstaunen zeigt sich in den Gesichtern der Anwesenden, auch Rührung und Anerkennung. Die Distanz, die sonst oft zwischen Schulleiterin und Kollegium spürbar ist, verflüchtigt sich in diesem Moment. Indem sie so sichtlich berührt ist, berührt sie alle Anwesenden.

Verlässlich und kalt?

Wie ist das nun mit uns Deutschen, die wir über Jahre zuverlässig zusammenarbeiten und dabei nicht im Ansatz wissen, was unsere Kolleginnen und Kollegen privat bewegt? Wie ist das mit uns Deutschen, die wir durchaus zu Herzlichkeit und Leidenschaft bereit sind, aber meist nur im kleinen Kreis? Wie ist das mit diesem Menschenschlag, der auf Distanz geht, wertet, kontrolliert – und über Distanz und Kontrolle klagt? Der sich im Fußballstadium schwitzend umarmt und seine Nachbarn nicht kennt?

Die Dankbarkeit, mit der wir uns dem Genuss, der Gelöstheit, gar der Extase hingeben – wenn auch nur in klar bestimmtem Rahmen – lässt erahnen, wie selbstbeherrscht wir Deutschen sonst sind. Das Land der Dichter und Denker ist auch ein Land der Grübler und Reflektierer. Wir tun uns nicht leicht damit, uns nahe zu kommen, uns berühren zu lassen und zu berühren.

Außen kühl, innen voll Emotionen

Von außen mögen wir kühl erscheinen, aber darunter wartet bei vielen – so erscheint es mir zumindest – die Lachlust und Freude am Absurden. Ebenso wie Aggression oder Schmerz. Ein Land, dessen Bewohner im zwischenmenschlichen Kontakt so viel Distanz benötigen, muss zugleich ein Ort großer Leidenschaft sein.

Kühl sind wir nicht, wir Deutschen. Nur selbstbeherrscht.

Was sagst du dazu? Ich freue mich über deine Meinung!

Herzlichen Gruß, Sarah

[Foto: Pixabay]

Mit diesem Text nehme ich am „Alltags-Projekt“ von Ulli Gau teil, zu dem diese auf ihrem Blog seit Oktober 2018 ein Jahr lang jeden Monat aufgerufen hat. Immer am ersten Wochenende des Monats haben viele Menschen ihren ganz persönlichen, kritischen oder poetischen Blick auf ihr Alltagsleben geteilt. Ich habe bisher nur still mitgelesen. Diesen Text aber möchte ich teilen – ich hoffe, er findet noch seinen Platz in der Runde!🙂

11 Gedanken zu „Wir Deutschen? Eine Annäherung“

  1. Sehr schöner Artikel! Das stimmt schon, Deutsche sind auf den ersten Blick sehr kühl und distanziert und viele sagen dir direkt ins Gesicht, was sie an dir stört. Aber besser so als anders herum. Wer eine Zeit in Asien gelebt hat, weiß die dt. Direktheit und die offenen dt. Gesichter zu schätzen. Asiaten verstecken ihre Emotionen oft hinter einem stehendem Lächeln. Sie sind vollkommen undurchschaubar.
    Deutsche sind fast immer sehr korrekt und halten ihre Versprechen. Sie hassen die Ungerechtigkeit und wollen alles erklärt wissen.
    Die Deutschen sind weit besser als ihr Ruf! 👍👋

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    1. Danke für deinen Kommentar! Spannend daran finde ich wiederum deinen Blick auf asiatische Menschen und auch im Gespräch mit meinen ausländischen Studierenden wurde mir deutlich: in der „Fremde“ tendieren wir fast automatisch dazu, die Dinge – und Menschen – die uns dort begegnen, nach unserer eigenen kulturellen Schablone zu bewerten. In Afghanistan oder Brasilien gilt es als Gastfreundschaft, Unmengen an Speisen aufzufahren – dann müssen die Deutschen ja wenig gastfreundlich sein, wenn man hier nur einen vollen Teller bekommt…
      Mich reizt daran der Perspektivwechsel. Leider habe ich momentan keine asiatischen Studierenden in meinem Kurs, sonst würde ich sie mal fragen, was es aus ihrer Sicht mit diesem „stehenden Lächeln“ auf sich hat!🙂
      Viele Grüße, Sarah

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    2. Auf Festen, z.B. Geburtstagen, Hochzeiten geht doch normalerweise auch in Deutschland keiner hungrig nach Hause 😀

      Und ich denke, das macht halt jeder Kulturkreis, das Vergleichen der kulturellen Dinge. Da sind alle Menschen gleich. Das Fragen, was „besser“ sei, ist dann der Fehler (meiner Meinung nach).

      Liebe Grüße!

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  2. Unser Hang zu Effizienz macht uns in der Geschäftswelt so direkt. Klar können wir lange rumeiern, warum ein Kundenwunsch so nicht umgesetzt werden kann. Aber man kann auch einfach sagen: Nein, so geht es nicht! und dann zum Vorschlag kommen, wie es geht und wir haben alle eine Menge Zeit gespart. Dieses Rumgeeiere, wenn wir in Polen etwas wollten, hat mich total genervt. Da hat man erst bei einem zweiten oder dritten Kontakt zögerlich gesagt bekommen, dass es so nicht geht oder der Handwerker aus welchen Gründen auch immer den Auftrag nicht ausführen kann oder will (zum Beispiel volle Auftragsbücher). So viel verschwendete Lebenszeit! Wir lassen hier gerade einiges am Haus machen und es ist so wohltuend, wenn beim ersten Termin schon klar gesagt wird, was geht und was nicht.
    Ich denke, Deine Schüler haben mit allen Beobachtungen recht. Es gibt auch ein Buch „German Men Sit Down to Pee“, da taucht auch einiges davon auf. Nur einem würde ich nicht zustimmen (kann aber auch ein Dorf-Stadt-Unterschied) sein… eine der größten deutschen Ängste ist, dass Gäste hungrig vom Tisch aufstehen könnten und immer viel zu viel Essen übrig bleibt.

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    1. Ja, der Hang zur Effizienz… interessanterweise wurde der auch von mehreren meiner ausländischen Studierenden gelobt🙂. Und manche fanden es sogar angenehm, dass hier (meist) nicht ständig das Haus voll von Freunden und Bekannten ist. Das ist aber vielleicht wirklich ein Stadt-Land-Ding. Oder vielleicht auch persönliche Vorliebe. „Die Deutschen“ gibt es so eben auch nicht!
      Was ich selbst unterstreichen würde, ist, dass genau diese Effizienz Kontakte (auch halb-privat), z.B. unter Kollegen oder entfernten Bekannten, jahrelang wunderbar funktionieren lassen kann, ohne, dass man sich nur im Ansatz kennen lernt – eben weil keiner über das Funktionale hinaus etwas fragt. Das empfinde ich schon als kühl. Umgekehrt hat es dann etwas sehr Berührendes, und meiner Meinung nach auch Erleichterndes, wenn die „Fassade“ sich für einen Moment lüftet, wie an diesem Tag bei meiner Schulleiterin.
      Lieben Gruß und Danke für deinen Kommentar! Sarah

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  3. Ich habe meine Mühe mit dem Begriff „Wir Deutschen“, dazu ist dieses Volk, das Deutsche genannt wird, viel zu unterschiedlich. Selbst mache ich und machte ich viele, unterschiedliche Erfahrungen, erfuhr ich grosse Gastfreundschaft mit viel zu vollen Töpfen, erlebe viel Herzlichkeit und Offenheit. In diesem Zusammenhang möchte ich dich auf ein Projekt aufmerksam machen, dass Ende letzten Jahres Graugans initiierte, auch hier gab es sehr unterschiedliche Einschätzungen: https://www.graugans.org/24-t-nachspiel-mutmassungen-ueber-das-deutschsein-gastbeitrag-andreas-glumm/ – hierbei handelte es sich um einen „Adventskalender“ 24 Mutmassungen über das Deutschsein.
    Nun aber bedanke ich mich bei dir für deine Teilnahme und selbstredend bist du dabei, wenn es auch die letzte Runde in meinem Alltagprojekt gewesen ist.
    Herzliche Grüsse
    Ulli (Gau – ohne s 😉 )

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    1. Liebe Ulli,
      herzlichen Dank für deine Antwort, deinen Lese-Tipp samt Link und dass ich mich somit noch „auf den letzten Drücker“ an deinem Alltagsprojekt beteiligen kann!🙂

      Wie du habe ich meine Mühe mit Pauschalisierungen, schon allein, weil ich selbst mit viel zu vielen verschiedenen „Deutschen“ zu tun habe, um da noch eine echte Einheitlichkeit wahrzunehmen. Dennoch fand ich die (pauschalisierenden) Beschreibungen meiner Studierenden sehr interessant und z.T. auch treffend. Eben den Austausch darüber empfinde ich als bereichernd, nicht das Verbreiten von Klischees!🙂
      Herzlichen Gruß, Sarah

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  4. Danke für den schönen Artikel! Ich bin seit 32 Jahren in Deutschland und komme bis heute mit der kühlen Mentalität nicht klar. Aber ich habe auch viele offene und warmherzige Menschen kennen gelernt und versuche mich stets nach diesem Schlag zu orientieren. Trotz allem ist es mir flächendeckend gesehen zu wenig. Es gibt aber auch regionale Unterschiede, schon ein kleiner Ortsteil kann seine eigene kleine Mentalität mit sich bringen.

    Was ich für mich gelernt habe ist, dass jede Kultur starke Seiten hat und auf diese versuche ich mich mittlerweile stärker zu konzentrieren. Ich komme ursprünglich aus Polen und man könnte meinen zwei Länder, die sich eine Grenze teilen, können so verschieden nicht sein. Aber weit gefehlt. Oft empfinde ich es wie zwei unterschiedliche Pole. Mittlerweile kann ich daraus aber gut schöpfen, denn wenn ich aus beiden Seiten die Stärken filtere, ergibt es für mich ein wunderbares Ganzes.

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    1. Liebe Magdalena, danke für dein Mitlesen, deinen klugen Kommentar und dass du deine Erfahrungen hier beschreibst! Ich finde auch, jede Kultur hat ihre Stärken – und auch die Werte und Traditionen innerhalb eines Landes können sich verändert. Auch ich empfinde den Umgang vieler Deutscher untereinander oft als recht kühl, aber hiergegen lassen sich ja eigene warmherzige Akzente setzen!😉 Lg, Sarah

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