Familie, Gesellschaft

Die Welt wird gleichberechtigter – auch in Kinderbüchern. Aber mit noch viel Luft nach oben

Bild aus Kinderbuch "Der Hubschrauber", das eine Pilotin im Hubschraubercockpit zeigt.
2022: Die Pilotin im Cockpit des Rettungshubschraubers

Als Mutter blättere ich mit meinen Jungs fast täglich in mindestens einem Bilderbuch. Mal sind die Bücher komplexer, mal einfacher, mal sind es Sachbücher, mal (Alltags-) Geschichten. Gerade in unserer gut bestückten Stadtbibliothek sind wir schon auf echte Buchschätze gestoßen. Aber auch „ganz normale“ Sachbücher zu Alltagswissen können aufschlussreich sein: Wer macht darin was? Was für ein Männer- und Frauenbild, was für ein Bild der Welt wird darin transportiert? Hat sich das bereits in den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren geändert?

„Die Eisenbahn“ (2005) vs. „Der Hubschrauber“ (2022): Zwei Sachbücher – zwei Welten

Cover „Die Eisenbahn“ (2005) vs. „Der Hubschrauber“ (2022)


Zwei Sachbücher der Reihe „Wieso, weshalb, warum?“ für Kinder zwischen zwei und vier, die seit Jahren im Ravensburger-Verlag erscheint: Das eine zum Thema „Eisenbahn“ erschien 2005, das andere zum Thema „Hubschrauber“ 2022.  Rund 15 Jahre zeitlicher Abstand liegen zwischen der jeweiligen Erstveröffentlichung und tatsächlich tun sich darin unterschiedliche Welten auf. Ein Vergleich: 

Die Eisenbahn (2005)Der Hubschrauber (2022)
Zugchef und Lokführer, die Herren am Auskunftsschalter, die Arbeiter im Güterbahnhof: alles Männer (okay, ganz klein im Zug der City Night Line eine Lokführerin); die Damen finden sich im Buch als einfache Zugbegleiterin (damals noch Schaffnerin), Bäckereiverkäuferin, Mitarbeiterin am PC im Stellwerk (mit Mann, der ihr über die Schulter schaut) oder Mütter… => soweit, so rollenstereotypHier hat sich innerhalb der rund 15 Jahre offenbar etwas getan: Auf dem Titel steuert eine Pilotin den Rettungshubschrauber, neben der Unfallstelle fährt auf der Gegenfahrbahn eine LKW-Fahrerin einen Lastwagen, die Notärztin versorgt den Verletzten und gleich mehrere Mechanikerinnen überprüfen den Hubschrauber im Hangar und werden im Buch auch mit weiblicher Bezeichnung benannt. Umgekehrt helfen die Männer nicht nur tatkräftig als Piloten mit, sondern auch als Sanitäter oder Krankenpfleger und tauchen als Familienväter auf.
Es gibt im Buch Punks, zwei Mädchen mit blau gefärbten Haaren, eine Nonne, einen Zimmermann auf der Walz, sogar zwei mit dem Zug reisende Elefanten – aber buchstäblich keine (!) Person im Rollstuhl, mit Blindenstock oder sonst irgendwie erkennbarer BehinderungAuch hier: lediglich ein Junge mit Gipsbein im Rollstuhl, ansonsten niemand, der in irgendeiner Form eine Behinderung zu haben scheint. Allerdings fallen mir zwei androgyne Personen auf, die sich nicht klar einem Geschlecht zuordnen lassen. Ein wenig mehr Vielfalt also, wenn auch noch immer ausbaufähig.
Genau 4 (!) Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe unter sicher 400 Personen im ganzen Buch;Noch immer genau 4 (!) Menschen mit nicht weißer Hautfarbe; unter den Pilot:innen der Hubschrauber keine einzige nicht-weiße Person
Beim Suchspiel am Ende des Buches steigt der Geschäftsmann in den ICE ein. Die Strecke führt ins Bankenviertel einer Stadt. Die Frau daneben mit Kind und Hund fährt mit der Regionalbahn dagegen ins Einfamilienhaus… => klar, er verdient das Geld, sie sorgt… Das Suchspiel am Ende zeigt die Werkstatt, in der der Hubschrauber betankt und repariert wird. Hier bringt ein Kollege der Pilotin Kaffee und Croissant, mehrere Mechanikerinnen warten derweil die Maschine => Care- und Erwerbsarbeit mal umgekehrt

Auch 2022 noch kein echtes Abbild unserer Gesellschaft

Im Ganzen also doch ein paar Veränderungen, vor allem an der emanzipatorischen Front. Bedenkt man, dass sich gerade im Alter zwischen zwei und vier erste Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Köpfen von Kindern verfestigen, ist das ein willkommener Fortschritt. Dennoch sehe ich die Vielfalt unserer Gesellschaft auch im Buch aus dem Jahr 2022 noch nicht wirklich abgebildet: Wo sind die gleichgeschlechtlichen Paare? Wo ganz selbstverständlich Menschen mit Behinderung? Wo Menschen unterschiedlichster Herkunft? Wo berufstätige Menschen kurz vor dem Rentenalter?

Auch meine Jungs sehen Bücher wie diese mit großer Neugier an. Sie erklären ihnen die Welt und ich bin sicher, es macht einen Unterschied, wie die Welt in diesen Büchern aussieht: männlich dominiert, homogen und weiß? Oder tatsächlich gleichberechtigt, vielfältig und bunt in Bezug auf Herkunft, Auftreten, Identität? Lasst uns also gut wählen, welchen Büchern wir durch unsere Auswahl erlauben, Kopf und Herz unserer Kinder zu erreichen. Und was uns die Welt berichtet, die darin zu sehen ist!

P.S. Zwei weitere spannende Kinderbücher, die ich in der nächsten Zeit in Bezug auf (Rollen-) Stereotypen und Diversität ansehen möchte: Alles Arbeit, oder was?! von Mieke Scheier (Beltz&Gelberg, 2021) und Alles Familie! von Alexandra Maxeiner (Klett Kinderbuch, 2010), inzwischen ein Klassiker moderner Kinderbuchliteratur. Rezension auf mutter-und-sohn.blog folgt!

Herzlichen Gruß, Sarah Zöllner (mutter-und-sohn.blog)

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[Fotos: privat]

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