
Vor wenigen Tagen ist im Ullstein-Verlag ein Buch erschienen, das mich schon weit vor Veröffentlichung neugierig gemacht hat: „So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen„. Autorin Lena Högemann lässt darin Mütter – und Väter – zu Wort kommen, die die Geburt ihrer Kinder als fremdbestimmt oder sogar traumatisierend erlebt haben. Anlässlich der Buchveröffentlichung habe ich mit Lena Högemann gesprochen.
Lena, du schreibst: „Der Tag, an dem ich Mutter wurde, war der schlimmste Tag meines Lebens“. Warum?
Der Satz ist traurig, aber für mich war es sehr wichtig, mir das einzugestehen. Von Frauen wird ja noch immer erwartet, dass die Geburt ihres Kindes der schönste Tag ihres Lebens sein soll – bei mir war das einfach nicht der Fall. Im Gegenteil: Es war der schlimmste Tag meines Lebens, denn ich wurde Opfer von Gewalt, Fremdbestimmung und Übergriffen – und das in einem sehr verletzlichen Moment. Das habe ich tatsächlich erst Monate später wirklich verstanden. Und so wie mir geht es tatsächlich vielen Müttern nach einer traumatischen Geburt. Sie haben Panikattacken, Alpträume oder können keine richtige Bindung zu ihrem Kind entwickeln, und das, weil sie eben unter der Geburt Gewalt erfahren haben.
Du forderst für Frauen die Möglichkeit, ihre Geburt selbstbestimmt zu erleben. Was verstehst du darunter?
Selbstbestimmung setzt voraus, dass diejenigen, die Geburt in den Kliniken begleiten, also Ärzt:innen und Hebammen, verstehen, dass jede Frau unterschiedlich ist und andere Bedürfnisse und Vorstellungen hat. An die Frauen selbst appelliere ich, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre Geburt erleben wollen. Sie können zum Beispiel einen Geburtsplan schreiben und auch vor Ort darauf aufmerksam machen, dass sie eine Person mit eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen sind. Selbstbestimmung unter der Geburt heißt, dass eine Frau ihre Geburt so erleben kann, wie sie möchte, zum Beispiel mit PDA oder ohne, auf dem Gebärhocker oder nicht. Diese Entscheidungen sind so individuell wie die einzelne Frau.
Und natürlich bedeutet Selbstbestimmung auch, ich werde nicht berührt, wenn ich das nicht möchte, auch nicht im Rahmen einer vaginalen Untersuchung. Über mich wird nicht verfügt, sondern ich bestimme selbst, was mit mir und meinem Körper geschieht. Falls es zu Komplikationen kommt, lasse ich mir genau erklären, was die Optionen sind und stimme aktiv zu. Insofern ist Selbstbestimmung in allen Varianten der Geburt möglich. Selbstbestimmung heißt also nicht unbedingt, dass die Geburt „natürlich“ und komplett ohne medizinische Eingriffe verläuft, sondern vielmehr, dass ich als Frau die Geburt so erleben kann, wie ich möchte und dass die Kommunikation dabei individuell und auf Augenhöhe geschieht.
Negative Geburtserfahrungen sind in deutschen Kliniken Alltag. Das zeigen Zahlen von Motherhood e.V. Demnach erleben zwischen 20 und 40 Prozent der Frauen die Geburt ihres Kindes als belastend. Das wären knapp 150.000 bis 300.000 Geburten jährlich. Was belastet die Frauen besonders?
Ich denke schon, dass die fehlende Selbstbestimmung unter der Geburt ein wichtiger Punkt ist. Dass wir als Frau über unseren Körper entscheiden, ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens. Und dann kommen wir für die Geburt ins Krankenhaus, vertrauen uns den Geburtshelfer:innen an und erleben auf einmal Fremdbestimmung und Übergriffe. Das ist wirklich schockierend und kann zu einem Trauma führen. Ich selbst musste zum Beispiel einen unangekündigten Dammschnitt erleben. Andere Frauen berichten vom sogenannten Kristeller-Handgriff, der in Kliniken immer noch häufig angewandt wird. Dabei werfen sich ein oder mehrere Personen während der Geburt auf den Bauch der Frau. Das kann schlimme körperliche und seelische Folgen haben. Dazu kommt natürlich auch die verbale Gewalt, wie zum Beispiel, wenn die Hebamme – wie bei mir – dir, wenn du während der Geburt verzweifelt bist und weinst, sagt, „Weinen hilft dir jetzt auch nicht!“ Beispiele dieser Art habe ich viele in meinem Buch gesammelt.
Was führt zu diesen Missständen in deutschen Kliniken?
Erst einmal sicher finanzielle Fehlanreize in der Geburtshilfe: Eine Klinik verdient viel Geld mit einer komplizierten Geburt mit vielen Eingriffen und wenig mit einer natürlichen, die im Zweifelsfall auch noch länger dauert. Die Zahlen zeigen, dass in Kliniken dementsprechend viele klinische Eingriffe erfolgen. Dazu kommt, dass ein solches Vorgehen in der medizinischen Ausbildung noch immer gelehrt wird und auch Hebammen das früher so gelernt haben. Hebammen, die heute studieren, lernen eine andere Geburtsbegleitung, die Frauen respektiert und in Entscheidungen einbindet. Aber sie kommen in Kreißsäle, in denen alles ist wie früher. Die hierarchischen Strukturen in den Kliniken tragen somit zu den Missständen bei: Viele Kliniken arbeiten nicht entsprechend dem neuesten Stand der Wissenschaft, als zum Beispiel entsprechend der aktuellen Leitlinie, sondern richten sich nach dem, was der Chefarzt sagt. Ich nenne das „eminenzbasierte“ statt evidenzbasierte Geburtshilfe. Den Begriff hat mir eine Hebamme beigebracht, die die vielen Interventionen während Geburten auch kritisiert.
Und nicht zuletzt haben wir in unserer Gesellschaft eben immer noch das Patriarchat, das Frauen lediglich als „Hülle neuen Lebens“ sieht. Hat mein Kind durch die Geburt eine Beeinträchtigung, können die Geburtshelfer:innen verklagt werden, trage ich als Mutter von der Geburt aufgrund der Eingriffe Beeinträchtigungen davon, sieht die Situation schon komplizierter aus.
Was wird aktuell sowohl auf politischer Ebene, als auch innerhalb der Kliniken getan, um Frauen eine würdige und selbstbestimmte Geburt zu ermöglichen?
Ich sehe hier eine große Verantwortung bei den Kliniken selbst. So gibt es zum Beispiel für Hebammen und Ärzt:innen Fortbildungen in traumasensibler Geburtsbegleitung, die noch viel stärker genutzt werden sollten. Ebenso wichtig: der Umgang mit Fehlern und die Hierarchie in den Kliniken. Junge Hebammen kommen nach ihrer Ausbildung voller Ideale auf die Geburtsstationen, sehen, wie dort eine altgediente Hebamme eine Frau zusammenstaucht und trauen sich oft nicht, zu sagen: „Hör zu, Kollegin, was du da gerade machst, ist traumatisierend. Ich möchte, dass du anders mit Frauen redest!“ Reflexion und Supervision ist in jeder Klinik möglich, unabhängig von Reformen auf politischer Ebene. Aber auch politisch geraten Dinge allmählich in Bewegung. Dass Fallpauschalen in der Geburtshilfe oder das Sparen an Hebammenstellen kontraproduktiv sind, hat auch Gesundheitsminister Lauterbach inzwischen zugestehen müssen. Ich fordere, dass viel mehr Geld in die Geburtshilfe fließt, dass es wieder mehr Hebammen in den Kliniken gibt und damit eine 1:1-Betreuung während der Geburt. Diese Forderungen stehen bereits im Koalitionsvertrag, werden bis heute aber nicht umgesetzt.
Wo würdest du selbst ansetzen, um Veränderung zu bewirken?
Mir ist wichtig: Man muss keine Frau traumatisieren, um ein Kind gesund zur Welt zu bringen. Dieses Bewusstsein sollte Standard in der Geburtshilfe sein. Auch, weil eine psychisch gesunde Mutter natürlich ihr Kind nach der Geburt ganz anders versorgen kann. Daher ist mir – neben Geld, Personal und der entsprechenden Ausbildung für Geburtshelfer:innen – auch die Aufklärung der einzelnen Frau so wichtig. In den Ratgebern zu Geburt, die ich gelesen habe, stand zum Beispiel nirgends, dass Eingriffe oft routinemäßige erfolgen und eben nicht nur, wenn sie medizinisch notwendig ist. Es stand auch nirgends, dass ich eine Hebamme haben kann, die gemeine Dinge zu mir sagt. Wir brauchen also eine ganz andere – und ehrliche – Diskussion über Geburtshilfe, dass Frauen berichten, was sie erlebt haben und dass auch das Umfeld akzeptiert, dass Geburten unterschiedlich verlaufen können.
Oft haben Frauen ja gar nicht die Wahl, in welche Klinik sie gehen oder werden unter der Geburt von ihrer Wunschklinik aufgrund von Personalmangel abgewiesen.
Ja, definitiv. Um hier wirklich eine Wahlfreiheit in der Breite zu haben, muss die Geburtshilfe ganz anders finanziert werden. Außerdem brauchen wir ein flächendeckendes Angebot an Geburtshäusern und Hausgeburtshebammen, damit Frauen frei entscheiden können, wo sie ihr Kind zur Welt bringen.
Was möchtest du mit deinem Buch erreichen?
Ich habe drei große Ziele. Erstens möchte ich Frauen, die eine belastende oder sogar traumatisierende Geburt hatten, sagen: „Du kannst nichts dafür. Das System ist schuld. Du wurdest Opfer von Gewalt, während du versucht hast, dein Kind zur Welt zu bringen – das lag nicht an dir!“ Diese Botschaft ist mir ganz wichtig. Die zweite Botschaft richtet sich an werdende Eltern: Entscheidet bewusst, was ihr für die Geburt eures Kindes wollt und wohin ihr geht. Jeder Geburtsort hat Vor- und Nachteile. Informiert euch und sprecht miteinander, mit Freunden oder mit eurer Hebamme darüber. Es ist wichtig, sich auf die Geburt gut vorzubereiten. Und zuletzt wendet sich mein Buch natürlich an Hebammen, Ärzt:innen und alle Menschen, die in Kliniken und auf politischer Ebene Verantwortung tragen. Ich möchte sie wachrütteln und ihnen sagen: Wir müssen das System ändern. Wir wollen, dass Frauen Kinder bekommen und zugleich ist der Moment der Geburt so schlecht begleitet. Das darf nicht sein!
Zur Autorin:

Lena Högemann, Jahrgang 1982, hat sich als Journalistin einen Namen als Expertin zu selbstbestimmter Geburt und der Situation in der Geburtshilfe gemacht. Ihre Artikel erscheinen u. a. in ZEIT online, im STERN, in der Eltern und in verschiedenen Tageszeitungen. Sie spricht außerdem als Expertin auf Fachveranstaltungen und ist Podcasterin. Sie ist verheiratet, Mutter zweier Töchter und lebt in Berlin. Mehr unter: https://frauhoegemann.de
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[Fotos: Ullstein-Verlag, Stefan Wieland. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.]
